Lina Sommer empfing ihr Dichten als Extrapost

Vorwort in "Das Lewe is kä Kinnerschbiel" von Oskar Bischoff

 

Die pfälzische Mundartliteratur scheint bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts hinein eine Angelegenheit des „starken Geschlechts“ gewesen zu sein, denn in den Autorenregistern der Anthologien sind (fast) ausschließlich Männernamen aufgeführt. Eine Ausnahme macht Lina Sommer, die lebenskluge „Sommerfrau“, wie sie bis zu ihrem Tode am 17. Juli 1932 von ihren zahlreichen Bekannten und Freunden genannt wurde.

 

Am 8. Juli 1862 hat Lina Sommer in der Domstadt Speyer das Licht dieser Welt erblickt. Das katholische Vereinshaus in der Herdgasse war ihr Elternhaus. Sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits lässt der Familienstammbaum sich bis ins Mittelalter nachweisen. „Wie die Vögel unter dem Himmel“, sagte sie einmal, verlebte sie in der alten Kaiserstadt und bei den Großeltern in Edenkoben ihre Kindheit, froh und durch keine Schatten getrübt. Erst nach der Übersiedlung ihrer Eltern nach Mannheim, dem Tod der Mutter und Wiederverheiratung des Vaters wurde „alles ganz, ganz annerscht“. Die Sonne schien von nun an nicht mehr so hell – und das tat sie auch in der Zukunft nicht mehr.

 

Vierundzwanzigjährig ehelichte Lina Müller (das war ihr Mädchenname) den verwitweten Fabrikbesitzer Adolf Sommer aus Braunschweig, der ein Sägewerk in Bad Blankenburg betrieb. Das Städtchen am Harz wurde ihre neue Heimat. Die Ehe war zwar eine glückliche, eine Kesselexplosion jedoch, die das Sägewerk stilllegte, veränderte die äußeren Lebensverhältnisse ziemlich ungünstig. Diese und die folgenden Jahre, die oft voller Bitternis waren, meisterte sie aber mit einem „großen Herzen“. Es ist ihr nichts erspart geblieben; es schien, als ob ihr nur ein Regenhimmel zugedacht war und Prüfungen nur darum in der Welt waren, um ihre Innenräume zu messen. München, Weinheim an der Bergstraße, Jockgrim in der Südpfalz und Karlsruhe waren ihre teils frei gewählten, teils zwangsläufigen Stationen; sie folgte jeweils dem einen und anderen ihrer drei Söhne nach, die sie mit mütterlicher Liebe umsorgte.

 

Das „große Herz“ der Lina Sommer bestimmte auch ihr literarisches Schaffen, das sich kurz vor der Jahrhundertwende, nach vorangegangenen Versuchen, die wenig bemerkenswert sind, in zunächst hochdeutschen Prosaskizzen und Versen durch die „Kölnische Zeitung“ vorstellte, um dann zu Gestaltungen in ihrer heimatlichen Mundart überzuwechseln. Starthilfe gaben ihr die „Fliegenden Blätter“, die ihr Genrebildchen „Rekonterchen“ erstmals veröffentlichte.

 

Lina Sommers Gedichte sind einfach, anspruchslos und gekennzeichnet durch einen volkstümlichen Humor pfälzischer Prägung, einen Humor, der ihr zu dem Wahlspruch verholfen hat:

 

                    Laufe barfuß

                    und pfeife dir ein Liedchen dazu,

                    dann vertreibst du dir die Sorgen

                    und – sparst auch die Schuhe.

 

                    Und steht auch kein Lachs

                    und kein Hecht auf deinem Tisch,

                    der Hering, guck,

                    der gehört ja auch zu den Fischen.

 

                    Blumen im Tod,

                    die stimmen nicht heiter,

                    bring Blumen ins Leben,

                    sell (selbiges) ist gescheiter.

 

                    Das Leben ist kein Kinderspiel,

                    zu weinen, dazu gehört nicht viel,

                    doch fest gewehrt, und froh gelacht,

                    sell (selbiges) ist es, was den Menschen macht.

 

Es kommt nicht von ungefähr, dass ihr erstes, 1902 erschienenes Bändchen „Schtillvergniegt“ betitelt ist, und einige andere „Wieseblumme“, „E Pälzer Blummestreißel“, „Nemm mich mit, es reut dich nit“ und „Pälzer Humor“ über-schrieben sind. Was Lina Sommer mit ihren Büchern erreichen wollte, war (nach ihren eigenen Worten) dies:

 

                    Ich möchte mir wünschen, dass jedermann,

                    der ein Buch von mir liest, sich dran freuen kann;

                    und dass er, wenn auch nur für kurze Zeit,

                    seine Sorgen vergisst und sein Herzeleid,

                    und dass er beim Lesen fühlt: die das schrieb,

                    die denkt auch an mich und die hat mich lieb !

 

„Die tiefsten und wertvollsten Gedichte sind jedenfalls diejenigen“, formulierte Lina Sommer einmal, „die man aus der eigenen Seele schöpft!“ Diese lapidare Feststellung findet ihre Bestätigung darin, dass man mit Fug und Recht sagen kann: in allen ihren Gedichten finden wir „sie selbst“ – ein Vorzug, den nicht alle Mundartdichter für sich in Anspruch nehmen können. In diesem Zusammenhang ist ihr „Werkstattgespräch über Dichter und Gedichte“ erwähnenswert, das sie im Dezember 1921der Öffentlichkeit preisgegeben hat.

 

„Ich will heute mal ein bisschen aus der Schule schwatzen. Guckt man doch gern auch mal in die Werkstatt der ehrbaren Zünfte, als da sind Bäcker, Schneider, Schuster, um hinter ihre Kunstgriffe und Geschäftsgeheimnisse zu kommen – warum nicht auch mal in ein Werkstättel der Reimschmiede? Das heißt: ein Werkstättel als solches hat ein rechter Dichter nicht – seine Werkstatt ist die große, weite Welt. Er ist frei und ungebunden – beinahe hätte ich gesagt: Freiherr – und ist in der Beziehung viel besser dran als der Maler, der immer Gepäck hat.

 

Um ein rechter Dichter zu sein – es ist nämlich ein gewaltiger Unterschied zwischen ‚Dichter‘ und ‚Dichter‘ – muss man tief blicken können; man muss wissen, wie viel lichter, heller Humor oft in der vermeintlichen Tragik liegt und wie viel erschütternde Tragik sich oft im Humor verbirgt. Dann muss man sich selbst vollständig aufgeben und ganz in seinen Mitmenschen aufgehen. Man muss sie lieb haben mit all ihren Schwächen, ihrer köstlichen Kurzsichtigkeit und Anmaßung.

 

Wie kommst du auf all diese Gedanken? Auf diese Frage habe ich mal einer Bekannten geantwortet: Liebe, die schickt mir unser Herrgott alle per Extrapost, weil ich es bin, verstanden? Diese scherzhafte Antwort hat eine gewisse Berechtigung; denn man sucht sie nicht, die Ideen, sie kommen direkt auf einen zu. Alles formt sich zu Reim und Lied, man muss eben einfach – kategorischer Imperativ – mitteilen, was in der Seele singt und klingt, frohlockt und jubelt, klagt und weint. Nichts Menschliches darf einem Dichter fremd sein; er ist hundertfach gesegnet und hundertfach gestraft, oder besser gesagt: gequält, weil das Leid der ganzen Menschheit das seine ist.

 

Auch die Gedichte, die man im Ernst und im Scherz sozusagen auf der Straße aufliest, tragen immer den Stempel der Persönlichkeit des Autors; denn er nimmt den Stoff in sich auf, verarbeitet ihn und gibt einen Teil seines Ichs dazu.

 

An einem wundervollen Sonntagnachmittag war ich mit meinen Kindern in einem Gartenkonzert. Am Tisch uns gegenüber nahm ein alter, korpulenter, jovialer Herr mit schneeweißem Haar Platz, dem die Pfiffigkeit, die Lebensfreude und auch der Weinkenner auf dem Gesicht geschrieben stand. Er sah urgemütlich aus, trällerte allerhand Melodien vor sich hin – kurzum: ich hatte meine helle Freude an diesem Lebenskünstler und dachte: warte, Alterle, dich nehme ich auf – und bald war auch das Gedicht fertig:

 

                    Rote Backen, helle Augen,

                    und ein pfiffig, lustiges Gesicht,

                    stillvergnügt und unverwüstlich,

                    immer schön im Gleichgewicht.

 

                    Oft betrachtet er sich im Spiegel,

                    voller Sorgfalt kleidet er sich,

                    und die lieben, jungen Mädchen

                    hat er gar nicht auf dem Strich.

 

                    Er ist auch kein Kostverächter,

                    guckt in alle Töpfchen hinein,

                    macht der Köchin Komplimente,

                    raucht sein Pfeifchen, trinkt seinen Wein.

 

                    Für ein Küßchen, schön in Ehren,

                    ist er sehr empfänglich auch,

                    der gesunde, kugelrunde,

                    der fidele Großpapa.“

 

Lina Sommers Liebe galt den Menschen, und sie galt ihrer pfälzischen Heimat, die sie in einer Vielzahl von Versen gerühmt und gefeiert hat.

                    „Ich freue mich alle Tage aufs Neue, dass ich ein Pfälzer Kind,

                     weil man ja in der ganzen Welt kein schöneres Ländchen findet.“

Aus dieser Haltung heraus schrieb sie auch ihre mundartliche Kurzprosa.

 

Mit der „Sommerfrau“ waren Hunderte, Tausende von Menschen in Freundschaft verbunden, Pfälzer und Nichtpfälzer, alte und junge, fröhliche und traurige. Sie alle schätzten ihr Dichten und Trachten und fühlten sich durch ihre frohgemuten Schöpfungen nicht gering beschenkt. Unter ihren „Freundschaften“ war die mit der Königin Elisabeth von Rumänien, eine geborene Prinzessin von Wied, die unter dem Pseudonym Carmen Silva in die lokale Literaturgeschichte eingegangen ist, wohl die berühmteste. Zeugnis davon gibt das von Lina Sommer herausgegebene Buch „Aus den Briefen einer einsamen Königin“.

 

Auf dem stillen Friedhof von Jockgrim am Hochufer des Rheins im Kreis Germersheim liegt die „Sommerfrau“ begraben.

 

Oskar Bischoff