Vorwort in: Das Kleine Lina-Sommer-Buch

von Werner Picton-Sommer

aus: Das Kleine Lina-Sommer-Buch (1962)

hochdeutsch, aber die direkte Rede von Lina Sommer ist in Mundart zu lesen.

 

Als dem einzigen noch überlebenden von Lina Sommers drei Buben ist es für mich eine liebe, wenn auch wehmütige Aufgabe, ein kurzes Vorwort zu diesem wohl letzten Lina-Sommer- Buch, das zu ihrem hundertsten Geburtstag erscheinen soll, zu schreiben. Da fast alle ihre Bücher, über zwanzig an der Zahl, völlig vergriffen sind, ist es erfreulich, dass wenigstens dieser kleine Ausleseband erscheinen kann.

 

Eine kurze Biografie, in Wingerter: „Pälzer Mudderschbrooch“ (Verlag Meininger), ist ja vorhanden, so dass ich mich hier in der Hauptsache auf persönliche Erinnerungen beschränken kann, und Bibliografisches nur ganz kurz berühre.

 

Meine Mutter wurde am 8. Juli 1862 in Speyer als ältestes von fünf Kindern geboren und verlebte dort ihre Jugend- und Schulzeit unter den günstigsten Verhältnissen. Schon als Kind „verbrach“ sie mit ihrem Bruder „Schorsch“ Texte für ihr Kasperle-Theater, sowie Knittelverse und Gedichtchen für festliche Familienanlässe. Dass aber das Dichten jemals zu ihrem Lebensberuf, dass sie einmal Schriftstellerin werden würde, ahnte damals wohl niemand, am wenigsten sie selbst.

 

Mit 25 Jahren verheiratete sie sich und zog zu ihrem Mann in den Harz, wo er ein Sägewerk betrieb, wo sie wohl die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbrachte. Durch den späteren Zusammenbruch des Sägewerks verlor das Ehepaar praktisch sein ganzes Vermögen. Da mein Vater von diesem Schlag auch gesundheitlich schwer getroffen wurde und nach langer Krankheit, die den kleinen Rest des Vermögens noch aufzehrte, schon 1904 verstarb, stand meine Mutter damals mit drei unmündigen Kindern ohne Rente und ohne Pension vor dem Nichts. Zunächst bot uns ihr Bruder in der Eifel einen Unterschlupf, bis die Lage sich klären würde. Eine meiner ersten Erinnerungen ist, wie meine Mutter vor dem Fahrkartenschalter ängstlich ihr noch vorhandenes Geld nachzählte und feststellte, dass es nur noch zu Fahrkarten vierter Güte in die Eifel reichte. Mein ältester, 1958 verstorbener Bruder Walter berichtet aus dieser Zeit der Wohnungsaufgabe: „Durch Verkauf einiger Möbelstücke hatte Mutter das Geld für die Mietzahlung des letzten Monats zusammengebracht. Bei der Zahlung war ich dabei und bemerkte, dass der Hausbesitzer die Mutter von Zeit zu Zeit prüfend ansah und dann ihr Geld, mit Quittung wieder in das Mietbuch legte und es Mutter zurückgab. Als Mutter protestierte, er habe ja das Geld nicht genommen, antwortete er: ‚Sie sehen ja, ich habe quittiert; es ist alles in Ordnung‘. Damit wandte er sich ab und ging ins Nebenzimmer. Dieser Mann hieß Siegfried Hirsch.

 

Einer der Verwandten in Bayern, ein Justizrat und Notar, bot meiner Mutter Aktenabschreiben in Heimarbeit als Existenzgrundlage an. Damals mussten Akten, meist schreckliches Juristendeutsch, noch mit Tinte und Feder nicht nur handschriftlich, sondern auch besonders klar und deutlich abgeschrieben werden. Nach dem Abschreiben mussten die Kopien mit dem Original durch lautes Vorlesen auf das genaueste verglichen werden, um die Möglichkeit eines Schreibfehlers, besonders im Hinblick auf die vielen Grundbuch-Hypotheken-, Akten-, Bezugs- und dergleichen Nummern und Zahlen, auszuschalten. Für diese ganze Arbeit erhielt Mutter die königliche Bezahlung von zehn Pfennig pro großer, langer Aktenseite. Wollte sie also auch nur fünf Mark am Tag verdienen, musste sie sich mit fünfzig Aktenseiten die Finger krumm und lahm schreiben.

 

Während der fünf Jahre dieser monotonen Arbeit kamen meiner Mutter oft abends beim Schlafengehen Einfälle für Gedichte und Erzählungen, die dann manchmal am nächsten Morgen schon fertige Gestalt angenommen hatten, an denen aber auch öfters lange herumgefeilt wurde. Meist waren es Sachen für Kinder. Auf Drängen von Freunden bot sie dann die eine oder andere Arbeit lokalen Zeitungen für ihre Sonntagsbeilagen an – und siehe da, viele wurden angenommen und gedruckt, einige sogar honoriert. Ich bin sicher, und Mutter hatte es mir auch bestätigt, dass die Wurzel ihrer späteren rein schriftstellerischen Tätigkeit diese Flucht aus der geisttötenden, seelenlosen Kopierarbeit in eigenpersönliches Schaffen war, um geistig nicht völlig zermürbt zu werden und zur Kopiermaschine herabzusinken.

 

Mit zunehmendem Mut und Selbstvertrauen stellte sich dann allmählich heraus, dass die Schriftstellerei auch lohnender sein konnte, und so wurde, wenn auch mit Zögern und Bedenken, nach fünf harten langen Jahren die Aktenabschreiberei endgültig an den Nagel gehängt. Wie oft sagte meine Mutter später, als ihr Name als Schriftstellerin bekannt geworden war und sie für eine schriftliche Arbeit vielleicht nicht die erwarteten fünfzig, sondern nur dreißig Mark erhielt: „Als besser wie dreihundert Seiten Akten abschreiben.“

 

Natürlich bedeutete die schriftstellerische Tätigkeit im Gegensatz zur Kopierarbeit keineswegs nur eitel Lust und Freude. Ehe sie einen „Namen“ hatte, wurden ihre besten Sachen oft abgelehnt, Sachen, die später von großen Verlagen mit Handkuss akzeptiert wurden. Und wenn ihr auch manche Sachen, wie sie selbst sagte: „nur so zugeflogen kamen“, so gab es doch auch oft Nervenanspannung, in der ihr alles „Tag und Nacht im Kopf herum ging, aber nicht heraus wollte“. Und schlaflose Nächte auf der Suche nach dem einzig richtigen Wort oder Ausdruck, die oft mit dem Ausruf: „alleweil habe ich es“ endeten. Wenn dann Bekannte fragten, ob auch einer ihre Söhne schriftstellerisch begabt sei, konnte sie antworten: “Gott sei Dank, von meinen Kindern ist keines erblich belastet.“ Trotzdem schrieb dann später ihr ältester Sohn Walter, als der einzige doch ‚erblich belastete‘, neben vielen Fachartikeln auch Erzählungen, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Ich ärgerte mich, wenn ich einen besonders guten Hausaufsatz wirklich ganz allein fabriziert hatte und der Lehrer bei der Notenbekanntgabe etwas süß-sauer bemerkte: „Na, ein klein bisschen wird die Frau Mama doch wohl geholfen haben.“ Mutter lehnte jede Hilfeleistung bei meinen Hausarbeiten als „Schwindel“ ab.

 

Außer der Schriftstellerei für Zeitungen und Zeitschriften gab es dann auch direkte „Bestellungen“ von Gedichten zu festlichen familiären Anlässen oder offiziellen Feiern. Und manchmal bezahlten beglückte Besteller weit mehr als meine Mutter jemals selbst zu verlangen gewagt hätte.

 

Eine der häufigsten Auftraggeber war eine ältere Potsdamer Dame – nennen wir sie mal Elise Gießkrug. Sie bezeichnete sich auf ihrem Briefbogen als Schriftstellerin und bat recht oft um dieses oder jene hochdeutsche Gedicht zu offiziellen Anlässen und Feiern, da sie selbst nur Prosasachen schreibe. Nach langer Zeit stellte sich ganz zufällig heraus, dass die gelieferten Lina-Sommer-Gedichte unter dem Namen Elise Gießkrug in norddeutschen Zeitschriften erschienen. Die meisten Autoren hätten dann wohl einen Protestbrief losgelassen oder gar mit Klage gedroht. Nicht so Lina Sommer. Sie teilte Elise Gießkrug nur mit, dass sie weitere Arbeiten wegen Überlastung nicht annehmen könne, dass sie sich aber freuen würde, wenn – quasi als Abschluss – ihre Kollegin auch ihr einmal etwas von ihren Arbeiten schicken würde. Als Antwort  kam mit einigen, etwas beschämt klingenden Zeilen als ihre „bisher einzige“ schriftstellerische Arbeit – ein Kochbuch ! Mutter amüsierte sich königlich darüber und die Redensart „auch ein Kochbuch von Elise Gießkrug“ ging noch lange schmunzelnd unter uns um.

 

Auch Reklame-Arbeiten wurden dann von größeren Firmen verlangt und besonders gut honoriert, wie von Pfaff, Kaiserslautern, Bleyle, Stuttgart und Lux, Ludwigshafen.

 

Wenn nicht für fünf Jahre die Peitsche des Verdienen-Müssens für das tägliche Brot und die Sorge dafür, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung für die Zukunft mitbekommen, ständig vor und hinter ihr gestanden hätte, wäre sie wohl nie so produktiv geworden. Es war nur ihrer Integrität zu verdanken, dass die Qualität darunter nicht litt. Sie kannte ihre Grenzen und war sehr streng mit sich selbst. „Es muss alles fließen wie Milch und Honig, sonst taugt es nichts“. Wie oft wurde sie aufgefordert, den Roman ihres Lebens, den Roman der alleinstehenden Witwe mit Kindern, die sich ohne Hilfe von außen durchkämpft und siegt, zu schreiben. „Nein, dazu langt es nicht“, war ihre Antwort. Ja, wenn ich ein Jahr lang nichts zu verdienen bräuchte und dann noch riskieren könnte, dass nicht daraus wird, dann vielleicht.“

 

Als dann ihre drei Buben einer nach dem anderen zu verdienen anfingen und so wenigstens einen winzigen Teil ihrer Fürsorge und Aufopferung – wenn auch nur materiell – gutmachen konnten, stellte sie mit Befriedigung fest: „Sodele, ich glaube als, aus dem Gröbsten sind wir jetzt draußen.“Aber für ein Romanwerk war sie dann wohl schon zu müde und abgeschafft.

 

Ich bin sicher, es wird mir hier nicht falsch ausgelegt, wenn ich sage, dass, wenn aus uns drei einigermaßen etwas geworden ist, wir das nur unserer Mutter und ihrem Beispiel zu verdanken haben.

 

Ihre Lieblingsarbeit waren und blieben immer Gedichte und Erzählungen in pfälzer Mundart, der Sprache ihrer Kinder- und Jugendzeit. Als dann die Zahl ihrer Dialektbücher anwuchs uns sich so gut verkauften, dass sie schon längst alle vergriffen sind, und als es Lina-Sommer-Abende und -Feiern und Gedenksteine gab, brach sie einmal in die Worte aus: „Jesses, Kinder, wenn das so weitergeht, werde ich ja noch einmal eine berühmte Frau. Dann kriege ich einmal eine schöne Leiche – nur schade, dass ich dann nichts davon sehe.“ Mit ihrem Bekanntwerden in der Pfalz und darüber hinaus bis nach Übersee mehrte sich natürlich auch die private Korrespondenz; nicht nur Dankesbriefe von Verehrerinnen und Verehrern, sondern auch viele Briefe mit Bitten um Rat und Hilfe erreichten sie. Auch ohne Sekretärin und ohne Schreibmaschine ließ sie wohl keinen unbeantwortet. Natürlich gab es auch Heiratsanträge von unbekannten Männern, besonders viele während des ersten Weltkrieges von Landsturmmännern aus dem Felde. Diese hatte wohl Liebesgabenpäckchen mit eingelegtem Gedicht von ihr zu persönlich aufgefasst. Aber auch glänzende „Versorgungsehen“ wurden ihr angeboten. Sie machte sich über solche Anträge nie lustig, sondern sagte nur: „Die können ja nicht wissen, wie glücklich verheiratet ich war, sonst kämen sie überhaupt nicht auf den Gedanken.“

 

Von einigen skurrilen Zuschriften erinnere ich mich nur noch an zwei. In einem Gedicht hatte meine Mutter die Zahl der aus dem Französischen stammenden Ausdrücke glossiert. Ein Herr, offensichtlich ein eifriger Sprachreiniger und Patriot, schrieb ihr, sie sei falsch „orientiert“; auf dem Lande gäbe es überhaupt keine aus dem Französischen stammende Ausdrücke, sondern nur in den pfälzer Großstädten. Er verlangte, dass sie das sofort in einem zweiten Gedicht „korrigiere.“ Wer denkt da nicht sofort an: ‚Jean, schasse die Hinkel aus dem Jardin‘ oder an Goethes Antwort an einen Fremdwortgegner: „Ja, und wie würden Sie das Wort ‚Pedant‘ übersetzen?“

 

Ein Gedicht, in dem Mutter meinte, es sei doch viel besser, den Lebenden hie und da ein Sträußlein oder kleine Geschenke zu bringen, als nur nach dem Tode einen möglichst großen Prestige-Kranz zu senden, fasste ein Gärtner als Berufsschädigung auf und drohte mit dem Interessenverband der Gärtner.

 

Dankesbriefe beantwortete sie oft in Gedichten, die sie nur so aus den Ärmeln schüttelte. Als später ihre Kräfte nachließen, musste sie sich selbstverfasste Dankesgedichte drucken lassen, die sie dann nur noch zu adressieren brauchte. Wurden aber Talentproben von jungen „Schriftsteller-Aspiranten“ mit der Bitte um Begutachtung überbracht, munterte sie, wenn sie wirkliche Begabung vermutete, immer mit anerkennenden und hilfreichen Worten auf. „Nur nicht nachgeben, nicht den Mut verlieren“, war oft ihr Rat. „Selbst wenn zwanzig Verleger ablehnen, der einundzwanzigste nimmt es vielleicht doch. Über Ablehnungen nicht enttäuscht sein; dass sich Verleger um Ihre Sachen reißen, können Sie am Anfang nicht erwarten.“ Da sprach sie wohl aus bitterer Erfahrung.

 

Natürlich freuten sie die vielen Anerkennungen, aber ich weiß, dass es ihr ebenso viel Freude machte, wenn sie im Stillen einem „armen Hinkel“ oder „einem lahmen Hund“ geholfen oder sie auf den rechten Weg gebracht hatte. Sie hatte merkwürdig großen Einfluss auf „problematische Naturen“, und als sie sich mit zunehmendem Alter und zunehmender Herzschwäche mehr und mehr schonen musste, hatten ihre Söhne oft ihre Not zu bremsen. Als bei einer Lina-Sommer-Feier, zu der ihr persönliches Erscheinen schon angekündigt war, der Arzt wegen plötzlicher, sehr ernster Verschlechterung ihre Teilnahme verbot, sagte sie: „Nein, Herr Doktor, wenn die sogar elektrische Laufschrift ‚Lina Sommer kommt‘ und ähnliche Possen machen, dann kann ich doch diesen Leuten die Pläsier nicht verderben. Polka will ich dort nicht tanzen, bloß zuhören und gucken  und den Leuten die Hand geben. Fertig – meine Küche. Ich gehe. Punktum.“ Dabei blieb es auch.

 

Woher kommt es, dass die Lina-Sommer-Sachen so sehr ihre eigene Note und ihren ganz eigenen, eben den Lina-Sommer-Humor haben? Ich glaube, dass dies alles ihrer Grundhaltung dem Leben gegenüber entspringt. Wie es Redakteur Proschky einmal so kurz und prägnant in einer Rede ausdrückte: Sie sah die Welt, wie sie war, und liebte sie dennoch, Ihr Humor ist wirklich ‚stillvergnügt‘ (wie der Titel ihre ersten Buches). Er ist weder derb noch laut, weder bitter noch verletzend. Statt einer bloßen Verulkung auffälliger Erscheinungen und Geschehnisse setzt sie mit einem Lächeln inneren Verstehens einen Humor, der seine Figuren und Geschehnisse zwar scharf und plastisch, aber doch stets liebenswürdig zeichnet. Wenn sie auf einem Ausflug, sei es in einem Kurgarten, auf einem Bahnhof, in einer Garten-wirtschaft auf dem Lande, in einer Konzert- oder Theaterpause plötzlich still wurde und entweder beobachtete oder vor sich hin sann, wussten wir: aha – das gibt wieder ein Gedicht.

 

Werner Picton-Sommer