Vergesst die Verlassenen nicht

aus: Ri-ra, rutsche-butsch

(hochdeutsch)

 

„Mütterchen, nimm mich doch heute mit dir, wenn du ausgehst“, bat Mariechen; „ich möchte gar zu gern noch mal die schönen Weihnachtsaus-lagen ansehen, denn die vielen Spielsachen werden doch alle bald aus den Schaufenstern genommen.“ „Ja, Maus, du kannst mitgehen“, sagte die Mutter, „darfst aber nicht zu neugierig sein und dein Näschen nicht in alle Pakete stecken.“

 

Rasch schlüpfte Mariechen in ihren warmen Mantel, setzte ihr Pelzkäppchen auf und eilte gar fröhlich an der Hand ihrer Mutter auf die Straße. 

 

In eine dichte, weiße Schneedecke war alles eingehüllt zum Empfange des Christkindes: mit lustigem Schellenklang und lautem Peitschenknall fuhren die Schlitten dahin, alle Leute liefen eilig mit großen und kleinen Paketen durch die Straßen und die Dezembersonne leuchtete blass und verstohlen herab, als ob sie sagen wollte: wartet nur erst, morgen Abend, wenn der Weihnachtsbaum brennt, dann wird’s erst schön!

 

In manchen Läden war die Mutter schon eingekehrt, hatte Äpfel, Nüsse und Backwerk und kleine Geschenke für die Kinder der Waschfrau gekauft; stolz und froh durfte Mariechen einen Teil der Sachen tragen. Nun kamen sie auf einen großen Platz, wo die Tannenbäume noch zu Hunderten standen. Wie verheißungsvoll war ihr Duft – welch frohe Erwartungen erweckte ihr Anblick in Mariechen!

 

Da trat ein armer, frierender Junge in dünnem Anzug und ohne Mantel auf die Mutter zu – hielt wohl ein Dutzend Hampelmänner in seinen blau erstarrten Händchen und bat mit zitternder Stimme: „Ach, kaufen Sie mir doch einen Hampelmann ab, das Stück kostet nur einen Groschen!“

 

Mariechen sah erst ganz verächtlich über den kleinen Jungen und die plumpen Hampelmänner hinweg und konnte sich gar nicht genug wundern, dass die Mutter zwei derselben kaufte.

 

„Hast du die Dinger selbst gemacht?“ fragte sie den kleinen Verkäufer.

 

„Ja“, erwiderte der Knabe bescheiden; die Bilder kaufe ich für drei Pfennig beim Buchbinder, in manchen großen Geschäften bekomm‘ ich auf meine Bitten leere Pappschachteln geschenkt, da klebe ich die Bilder auf, schneide sie aus und mache die Schnüre daran, da verdiene ich sechs Pfennige an jedem Hampelmann.“

 

„Was machst du mit dem Geld?“ fragte Mariechen weiter.

 

Verwundert blickte sie der Knabe mit seinen offenen, ehrlichen Augen an und sagte: „Das bringe ich meiner Mutter.“

 

Nun mischte sich auch Mariechens Mutter in das Gespräch; sie fragte den kleinen frierenden Verkäufer nach seiner Wohnung und nach seinem Namen und erfuhr, dass seine Mutter zum Arbeiten ausgehe, aber jetzt nicht fort könne, weil das Schwesterchen an Lungenentzündung erkrankt sei. Da nahm die Mutter den Knaben an der Hand, damit er ihr den Weg nach seiner Wohnung zeige. – „Freust du dich denn nicht auf morgen, wenn das Christkind kommt?“ fragte Mariechen unterwegs.

 

„Ach nein“, sagte er, „wir wohnen so weit hinten im Anbau, wer weiß, ob das Christkind uns da findet, und ich will lieber gar nichts zu Weihnachten, wenn nur unser Lieschen wieder gesund wird!“ An einem düsteren Haus in einer sehr engen Straße machte der Kleine Halt, schritt voraus durch einen langen Korridor in das Hinterhaus, und dort ging es drei enge, steile Treppen hinauf, so dass Mariechen und ihre Mutter gar nicht so rasch folgen konnten.

 

Als er eine alte, morsche Tür öffnete, hörte man seine Mutter rufen: „Hansel, kommst du endlich, hast wohl recht gefroren, liebes, armes Bübele, in deinem dünnen Anzug! Geh‘ zum Ofen, da steht warmer Kaffee und auf dem Tisch liegt ein Stück Brot – hast wohl nichts verkauft? Musst nicht traurig sein, der liebe Gott wird uns nicht verlassen!“

 

Vorsichtig legte Hansel die Hampelmänner auf den Tisch, gab seiner Mutter die zwei Groschen und schlich sich an das kleine Bettchen, wo auf einem harten Strohlager ein fieberndes Kind lag.

 

In diesem Augenblick trat die Mutter mit Mariechen in die ärmliche, aber saubere Stube, gab der Frau die Hand und sagte: „Ihr prächtiger, kleiner Junge hat mir zu gut gefallen, darum möchte ich nach seinem kranken Schwesterchen sehen; mein Mann ist Arzt, vielleicht kann er ihm helfen, wenn Hilfe möglich ist. Machen Sie sich keine Sorgen, liebe Frau.“

 

Gerührt von den warmen, mitfühlenden Worten schüttete die arme Mutter der Dame ihr Herz aus; sie erzählte, wie sie sich plagen müsse, seit der Vater tot sei – dass sie leider kein Geld habe, um für das kranke Kind etwas Kräftiges zu kaufen, und auch nicht an ein Tannenbäumchen denken könne.

 

Mit Tränen in den Augen eilten Mariechen und ihre Mutter hach Hause. Zum Glück war der Vater noch da; auf ihr Bitten machte er sich geschwind auf den Weg zu der kleinen Kranken.

 

Bei seiner Rückkehr erzählte er, dass er hoffe, das Kind retten zu können. Mariechen eilte in ihr Stübchen, packte all ihr überflüssiges Spielzeug zusammen, leerte ihre kleine Sparbüchse gründlich aus, steckte das Geld in einen Briefumschlag und schrieb darauf: „Vom Christkindlein zu einem warmen Anzug für den braven Hansel.“

 

Dann brachte sie alle ihre Siebensachen zur Mutter, welche schon einen großen Korb mit Esswaren und warmen Kleidungsstücken gerichtet hatte. – Am Bescherungstage, als es anfing, dunkel zu werden, huschte Mariechen mit dem Dienstmädchen, das den schweren Korb trug, zu Hansels Wohnung.

 

Leise legte sie die kleinen Geschenke auf einen Stuhl vor dem Bett des kranken, schlafenden Kindes, stellte ein kleines Weihnachtsbäumchen auf den Tisch, zündete es an und lief dann rasch nach Hause.

 

So von Herzen glücklich, wie an diesem Weihnachtsabend, war Mariechen noch nie gewesen. Und das kam daher, dass sie auch der Verlassenen und Kranken gedacht hatte; darum schenkte ihr das Christkindel zu allem, was sie sich gewünscht hatte, das Allerbeste: nämlich ein fröhliches Herzchen.

 

Lina Sommer