Unterwegs

aus: Für Dich! – Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

An einem schönen Sonntagmorgen, als ich von einem Gang auf den Friedhof heimkehrte, hielt ich auf einer Bank im Stadtgarten kurze Rast. Vor mir jubelten und spielten einige Kinder mit einem neuen Ball.

 

Am Ende der Bank saß, auf einen Stock gestützt, ein alter Mann mit schneeweißem Haar und Bart. Eines der Kinder fiel gerade vor ihm zu Boden, blieb gestreckter Länge liegen und wusste nicht, was es anfangen sollte, – lachen oder weinen.

 

Der Alte reichte ihm seinen Stock hin, an dem es sich aufrichtete, brachte es mit einigen lustigen Worten zum Lachen, griff in seine Westentasche und legte ihm ein Stück Zucker auf die Nase. Es kamen dann noch mehr Kinder dazu, und der alte Mann plauderte so nett mit ihnen, dass er sofort mein Interesse gewann.

 

Ich betrachtete ihn genauer, denn ich hatte ihn erst für einen Bettler gehalten, schämte mich nun aber dieser Auffassung, denn so kann ein Bettler von Profession nicht aussehen. Trotz der schlechten, abgenützten Stiefel, trotz seiner schäbigen, abgetragenen Kleider hatte er etwas so Abgeklärtes, Vornehmes im Gesichtsausdruck, dass ich mir dachte: du armer Mensch, hast gewiss schon bessere Tage gesehen, vermutlich hat auch dir das Leben nichts erspart und nichts geschenkt.

 

Als ich mich dann in eine Unterhaltung mit ihm einließ, erfuhr ich, dass er 68 Jahre alt sei, und auf meine Frage, ob er bei seinen Kindern, und gut aufgehoben und versorgt wäre, erzählte er mir, dass er keine Familie habe, nie verheiratet gewesen sei, und dass es ihm ein großer Trost wäre, allein sterben zu können, niemanden zu wissen, dem sein Tod nahe gehen würde.

 

Ich sah ihn betroffen an und blickte dabei in ein paar Augen, so klar, so gütig, so verklärt, wie man sie nur bei Kindern findet oder bei Menschen, die mit dem Leben abgeschlossen haben und sich auf den Himmel freuen. Natürlich hätte ich zu gern gehört, dass es dem alten Wanderer einigermaßen erträglich gehe, und fragte ihn, ob er in einem Spital untergebracht wäre.

 

Nicht wenig erstaunt war ich, zu erfahren, dass er keine Heimat habe und für einige Tage auf der Durchreise in der Herberge wohne. Bitter leid tat mir der Alte; in der Nähe sah man ihm die Armut und die Entbehrung so deutlich an – und doch scheute ich mich und hatte nicht den Mut, ihm etwas anzubieten. So erkundigte ich mich denn, ob er öfter in den Stadtgarten käme, und war froh, zu hören, dass er, solange er in Nürnberg sei, jeden Morgen ein Stündchen hier ausruhe.

 

Zu Hause zerbrach ich mir den Kopf, was ich ihm auf seinem voraussichtlich nur noch kurzen Lebenswege zu lieb tun könne, und als ich von meinen Angehörigen ausgelacht und bedeutet wurde, die ganze Sache sei wohl nur eine Attacke auf meinen Geldbeutel, machte ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zur Herberge. Ohne dass ich ihn lange beschrieb, wusste der Herbergsvater sofort, wen ich meinte, und sagte, dass der alte Wanderer gewiss guter Herkunft sein müsse, sehr bescheiden und höflich sei und sich nie unter die anderen mische.

 

„Von was lebt er eigentlich?“ fragte ich.

 

„Er scheint sehr arm zu sein“, bekam ich zur Antwort. „Sein Schlafgeld bezahlt er in Pfennigen, zum Essen kommt er immer her, setzt sich still in eine Ecke; ich habe auch schon beobachtet, dass er einem armen Burschen, der einen wehen Fuß hat, ein paar Pfennige zusteckte, unter Verzicht auf seine eigene Mahlzeit. Vermutlich beschenken ihn Vorübergehende; ich glaube nicht, dass er außer dem Inhalt seines kleinen Köfferchens etwas besitzt.“

 

Jetzt wusste ich genug, um, ohne mich vor mir selbst rechtfertigen oder entschuldigen zu müssen, den Platz wieder aufzusuchen. Und richtig, da saß der Alte, und ich erzählte ihm, ich sei gekommen, zu fragen, ob ich ihm irgendwie behilflich sein oder eine Erleichterung bringen könne.

 

Er gab mir die Hand, die hellen Tränen standen ihm in den Augen, als er sagte, dass er solch ein Entgegenkommen in seinem Leben nicht mehr erwartet hätte, und wenn er eine Bitte aussprechen dürfe, sei es die um reine Kleider, denn dazu käme er wohl sonst nicht mehr.

 

Es schien mir, dass er durch Vertrauensseligkeit um das gekommen, was er für die alten Tage zurückgelegt hatte, doch sprach er sich nicht weiter darüber aus. Im Laufe der Unterhaltung erfuhr ich dann, dass er zu Fuß von Augsburg nach Nürnberg gekommen wäre und nun zu Fuß weiter wolle nach Köln, wo er heimatberechtigt sei. Er sei unterwegs, auf dem Wege zur Heimat.

 

Ich betrachtete mir die alte, gebrechliche Gestalt und bemerkte, dies sei doch wohl unmöglich, worauf er behauptete, mit gutem Willen ließe sich manches erreichen.

 

„Da haben Sie dann doch für den Winter ein gutes warmes Plätzchen und Unterkommen“, sagte ich erleichtert. „Um ein Unterkommen für den nächsten Winter ist mir nicht bange“, meinte er und sah mich so eigen an, „bis dorthin bin ich versorgt. Ich habe nur noch den einen Wunsch, dass mich unser Herrgott bald abruft, und dass ich niemand zur Last fallen muss“.

 

Dann stand er auf, wie wenn er schon zu viel gesagt hätte, gab mir die Hand und schleppte sich mühselig weiter. Ich schickte ein Paketchen mit frischer Wäsche und abgelegten Kleidern in die Herberge und ließ dem Herbergsvater sagen, er möchte dem Alten, so lange er hier sei, auf unsere Kosten verpflegen.

 

Am nächsten Morgen schellte es an meiner Türe. Er stand draußen in den frischen Kleidern, war aber nicht zum Eintreten in die Wohnung zu bewegen – sagte, er wolle mir nur noch mal die Hand zum Abschied geben. Als ich den Versuch machte, ihn mit etwas Reisegeld zu versehen, wehrte er es ab.

 

Einige Wochen später las in der Zeitung eine Notiz, dass in der Nähe von B. ein alter Mann abseits von der Landstraße in einem Gebüsch ganz entkräftet aufgefunden worden und trotz ärztlicher Bemühung kurz darauf gestorben sei.

 

Es ließ mir keine Ruhe, ich schrieb an den Ortsvorsteher, und nach meiner Beschreibung erfuhr ich dann, dass es mein armer, alter Bekannter war, der unterwegs nach der Heimat, ohne jemand zur Last fallen zu müssen, wie er es sich gewünscht hatte, aus dem Leben geschieden war.

 

Sind wir nicht alle unterwegs zur Heimat?

 

Lina Sommer