Taub

aus: Für Dich! – Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

In einer niederen, großen, frisch geputzten Bauernstube – der weiße Sand liegt noch auf den Dielen – sitzt eine kleine, alte, gebückte Frau im Sonntagsstaat auf der Bank neben dem Kachelofen und hat die müden, welken Hände, die früher so treu und fleißig geschafft, im Schoß gefaltet.

 

Die Türe geht auf, und ihr ältester Sohn, der Müller, kommt mit festen, gewichtigen Schritten herein, hängt seinen schwarzen Rock mit den silbernen Knöpfen in den Kleiderschrank und stellt einen Krug Wein und vier Gläser auf den Tisch.

 

„Ist es bald gefällig, herein zu kommen, oder wollt ihr draußen stehen bleiben?“ ruft er zum Fenster hinaus, und gleich darauf betreten seine drei Geschwister die Stube. Fritz, der jüngste, geht auf die Mutter zu, plaudert mit ihr, fragt sie, wie es ihr geht, und streichelt ihr die Hände, wie früher, als er noch ein Kind war. Die beiden anderen, Marie und Karl, nicken der alten Frau flüchtig zu und nehmen weiter keine Notiz von ihr.

 

„Also“, fängt der älteste an, „ihr werdet euch wohl schon gedacht haben, warum ich euch habe kommen lassen, es ist wegen der Mutter. Sechs lange Jahre habe ich sie jetzt schon im Haus: jetzt könnte eins von euch sie mal zu sich nehmen – es wäre nicht mehr als recht und billig“.

 

„So“, fällt ihm seine Schwester ins Wort, „hat der Vater selig vielleicht nicht bestimmt, dass du die Mutter zu unterhalten hast, so lange sie am Leben ist. Dafür ist dir doch auch die Mühle zugesprochen worden, und wahrhaftig, schlecht bist du nicht dabei gefahren. Hast es von jeher verstanden, deinen Vorteil auszunützen.

 

Heimtücker! Jetzt, wo sie nichts mehr arbeiten kann, wollt ihr die alte Frau los sein. Solange sie noch die Kinder hüten konnte, war sie dir und deiner Frau doch recht. Ich sage dir es gleich von vornherein, ich nehme die Mutter nicht – da käme ich schön an bei meinem Mann, wir haben genug für uns zu sorgen, die alte Frau bleibt bei dir, so ist es abgemacht“.

 

„Jetzt bitte ich euch um des Himmelswillen“, fuhr Fritz dazwischen, „redet doch nicht so laut, das muss ja der Mutter einen Stich durch das Herz geben, denkt doch nur daran, wie sie sich all ihrer Lebtag für uns geplagt hat“.

 

„So nimm du sie halt, Kleiner, wenn du sie so arg bedauerst, ich lege dir gewiss keinen Stein in den Weg“, spöttelte der Älteste. „Übrigens kannst du dir deine Moralpredigt sparen, – erstens ist sie beinahe taub, die Mutter, – und zweitens, auch wenn sie es hören würde, würde es ihr auch nicht tief gehen“.

 

„Traurig genug, wenn es schon so weit ist, die Lieblosigkeit scheint ja bei euch auf der Tagesordnung zu sein. Ja, könnte ich sie nur gleich mitnehmen, nicht eine Minute würde ich mich besinnen. Aber solange ich noch keinen Hausstand habe, kann ich ihr auch nichts bieten. Du, Karl, in deinem großen Anwesen könntest doch der Mutter ein warmes Plätzel geben, wenn sie absolut aus der Mühle fort soll. Rein unmenschlich finde ich es, so an ihr zu handeln“.

 

„Ich und ein warmes Plätzel geben, dass ich nicht lache; du kennst halt meinen Schwiegervater nicht, sei nur so gut und lass mich aus dem Spiel, ich kann mir wahrhaftig keine neue Last aufladen“.

 

Während ihre Kinder noch so hin und her redeten und einander die Last aufzubürden suchten, hatte sich die alte Frau leise und unbemerkt aus der Stube geschlichen.

 

Der Müller machte noch allerlei Vorschläge, bot Geld an für das Unterbringen (des lieben Hausfriedens wegen, wie er sich ausdrückte), als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und seine jüngste Tochter mit schreckverzerrten Zügen ins Zimmer stürzte.

 

„Ach Gott – ach Gott, Vater komm doch, komm“, schluchzte sie, „die Großmutter ist vom Mühlensteig ins Wasser gefallen, dort, wo es am tiefsten ist – gerade hat man sie tot herausgezogen“.

 

„Mutter, arme, liebe Mutter“, stöhnte Fritz auf und eilt hinaus, seinem Bruder einen schrecklichen Blick zuwerfend.

 

Langsam kommen die drei anderen nach, und der Älteste sagt: „Jetzt möchte ich doch wahrhaftig wissen, was die alte Frau auf dem Mühlensteig zu tun hatte, kein Wunder, dass sie schwindlig geworden und ausgerutscht ist".

 

Lina Sommer