Mütterlichkeit

aus: Für Dich - Reim und Prosa

hochdeutsch

 

Nein, sie hat es ihrer zweiten Mutter wahrhaftig nicht leicht gemacht, die siebzehnjährige Grete, und es gehörte eine wahre Engelsgeduld, ein tiefes Verstehen und Verzeihen von Seiten der jungen Frau dazu, um über all das widerspenstige Wesen des heranwachsenden Mädchens ohne Bitterkeit und Groll hinwegzukommen.


Am unliebenswürdigsten zeigte sich Grete, wenn Vater nicht anwesend war; da setzte sie ihren Trotzkopf auf. „Wenn Mutter mich doch ein einziges Mal tüchtig schelten wollte, wenn sie mich bei Vater verklatschen wollte, dass ich einen Grund hätte, böse auf sie zu sein“, wünschte sie sich oft.

 

Aber nicht dergleichen geschah. Die junge Frau war immer gleichmäßig gütig, sie entschuldigte die Unarten und Unfreundlichkeiten der Tochter, war sie doch nach dem frühen Tod ihrer Mutter des Vaters Augapfel, und musste nun seine Liebe mit ihr teilen.

 

Es war Grete schon öfter aufgefallen, wie bleich und müde Mutter in letzter Zeit oft war, und mit welch großer Fürsorge Vater sie umgab. Das erregte erst recht ihre Eifersucht, Vater bemerkte es, er strich ihr oft mit der Hand über das blonde Haar, und sagte: „bist mein liebes großes Mädchen.“

 

Eines Tages, als die Eltern einen kleinen Spaziergang im Garten machten, wollte sich Grete überzeugen, ob ihr auch das neue Kleid, das Mutter ihr zum Geburtstag gemacht hatte, gut stehe, und lief, was sie sonst nie tat, in das Schlafzimmer der Eltern, um sich vor dem Spiegelschrank zu betrachten.

 

Wie angewurzelt blieb sie erst auf der Schwelle stehen, denn in der Ecke stand – blütenweiß, mit rosa Gardinen versehen – ein allerliebstes kleines Kinderbettchen.

 

Auf den Zehenspitzen schlich das junge Mädchen näher, streichelte die winzigen Kissen, fuhr liebkosend mit der Hand über die weiße Spitzendecke, – und am Abend, als sie zu Bett ging, gab sie der Mutter einen Kuss, – was sonst nicht ihre Art war, und sagte: „gute Nacht, liebe, liebe Mutter.“

 

Der Vater drückte sein „großes Mädel“ an sich, feucht glänzte es in den Augen der jungen Frau, aus jedem Gesicht leuchtete ein großes Freuen auf den kleinen Gast, der erwartet wurde.


Lina Sommer