Mein Großmütterle

aus: Für Dich! – Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

Am Ehrenplatz in unserer guten Stube hängt – in Aquarellfarben gemalt – ein großes, liebes Bild, zu dem ich mit gleicher Verehrung emporschaue, wie zu einem Madonnenbild. Und eine Art Madonna war sie auch im Leben, unser gutes Großmütterle; einen reineren, lieberen Gesichtsausdruck als den, der aus ihren seelenvollen, guten Augen, aus ihrem schönen Gesicht spricht, habe ich noch in keinem Bilde gesehen.

 

Als an ihrem Hochzeitsabend, im März 1837, die junge Frau aus dem Elternhause schied und mit ihrem Ehemann in die große, gelbe Postkutsche stieg, die sie nach der neuen Heimat bringen sollte, nahmen die Eltern und Geschwister unter vielen heißen Tränen Abschied von ihrem Liebling. Der glückliche, junge Ehemann rief tröstend zum Fenster heraus: „Lassen sich euer Liebden den Abschied nicht so schwer fallen, in sechs Wochen schicke ich das Töchterlein wieder“.

 

Und er hat Wort gehalten; gleich in den nächsten Wochen ließ er seine Charlotte von einem Künstler malen und genau sechs Wochen nach dem Hochzeitstag schickte er den Eltern das liebe Bild ins Haus.

 

Das Glück möchte ich wohl gesehen haben, als den alten Leutchen diese Überraschung zuteil wurde. Aber nicht lange sollten sie sich des lieben Gemäldes erfreuen. Der Vater starb nach kurzem Krankenlager, die Mutter folgte ihm bald, und als nun der Haushalt aufgelöst wurde, da kam das Bild zurück zu unserem Großmütterle, das damals allerdings noch kein Großmütterle, sondern eine hübsche, junge Frau war.

 

Nach acht Jahren wurde auch ihr Traugott abgerufen, er starb plötzlich an einem Herzschlag, und die junge Witwe stand nun da mit ihren beiden Söhnchen von sechs und zwei Jahren allein. Wohl ging ihr der Tod ihres Mannes sehr zu Herzen, aber ebenso ernst und heilig nahm sie nun ihre Pflicht, den Mut nicht zu verlieren und sich dem Schmerz nicht zu überlassen, im Gedanken an die Zukunft ihrer beiden Bübchen.

 

Und diese fanden an der Mutter das schönste und beste Vorbild an Pflichttreue, Selbstverleugnung und Wahrheitsliebe, so dass auch sie den geraden Weg der Pflicht betraten und ihre Mutter über alles hoch hielten. Mit sechsundzwanzig Jahren verheiratete sich ihr ältester Sohn, mein Vater, und bis in meine früheste Kindheit reicht die Erinnerung an mein Großmütterle zurück. Sie war, da unsere arme Mutter oft krank und leidend, gleichsam der gute Engel, der über mir und meinen Geschwistern wachte, – unsere beste Freundin, die nie müde wurde, uns zu erzählen, auf uns einzugehen, – die liebevollste, gerechteste Erzieherin, die, wenn sie strafen musste, stets so strafte, „dass der Apfel bei der Rute lag“. Ich höre sie heute noch uns ein Liedchen aus ihrer Jugendzeit vorsingen:

 

„Kommt, Schwestern und Brüder, ins Gärtchen zu gehen,

da blühen nun wieder die Blumen so schön;

wir wollen sie pflücken in kindlicher Lust,

mit ihnen zu schmücken das Haar und die Brust;

dann kehren wir wieder zur Mutter zurück,

und singen uns Lieder von Jugend und Glück“.

 

Ihr ganzes Sein und Wesen bestand darin, Großes in Kleines zu legen, sie adelte jede Arbeit, jede, auch die geringste, kleinste Verrichtung wurde von ihr so eingehend, so getreu ausgeführt, wie wenn das Wohlergehen der ganzen Familie davon abhinge. Ihre größte Freude war, heimlich Gutes zu tun; konnte sie einer bedürftigen Familie ungesehen einen Korb Esswaren und Kleider ins Haus praktizieren oder einem armen Handwerksburschen unbemerkt etwas zustecken, so war sie glücklich.

 

Als im Jahre 1870 die Truppen durch die Stadt zogen (wir wohnten damals in Speyer und hatten sehr viel Einquartierung), konnte sie den Soldaten gar nicht genug zu lieb tun, und als nun gar, nach Weißenburg und Wörth, die ersten Verwundeten kamen und ins Lazarett geschafft wurden, was hat da unser Großmütterle geleistet an Nächstenliebe und an Selbstverleugnung.

 

Man darf ihre Tapferkeit, ihre Unermüdlichkeit im Helfen, Zusprechen und Wohltun an den armen Verwundeten, ihr stilles, frommes Walten im Lazarett wohl dem Heldenmut und der Tapferkeit gleichstellen, mit dem unsere braven Soldaten hinauszogen ins Feld und ihr Leben ließen für das Vaterland.

 

War ein Verwundeter wieder soweit hergestellt, dass er ausgehen durfte, so lud ihn Großmütterle zu Tisch und kochte und briet mit ihrer alten Babette, was gut und teuer war. Ja, ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass sie einmal, als ein besonders zarter Braten auf dem Tisch stand, in helle Verzweiflung geriet, dass „gerade heute“ kein Verwundeter zu Gast war.

 

Als sich auf dem Kriegsschauplatz der Mangel an Krankenpflegern und Samaritern immer fühlbarer machte, und König Wilhelm den Aufruf „An mein Volk“ erließ, hielt es unseren Onkel, Großmütterles zweiten Sohn, nicht länger zu Hause. Er meldete sich als Sanitäter, und obgleich die anderen Familienglieder ängstlich davon abrieten, stellte sich die Mutter auf seine Seite. Ich sehe ihn noch vor mir, den blühenden jungen Mann, als er, den Tornister auf dem Rücken, das breite weiße Band mit dem roten Kreuze am Ärmel, zuversichtlich und voll Begeisterung Abschied nahm und unter Leitung des Barons von Richthofen, des Organisators des Sanitätswesens, in Feindesland zog.

 

Bei Sedan errang er sich das eiserne Kreuz, als er sich, um einen schwer verwundeten Offizier zu bergen, mitten in den Kugelregen wagte – und das Rettungswerk vollbrachte. Eine Verwundung, die er sich dabei zugezogen und anfangs nicht beachtet hatte, verschlimmerte sich derart, dass sein Transport in die Heimat nötig wurde. Sein Zustand war besorgniserregend, Tag und Nacht musste bei dem Fiebernden gewacht werden. Aber kein fremder Fuß betrat das Krankenzimmer.

 

Mutter und Bruder lösten sich in der Krankenpflege ab, vierzehn Tage kam unser Großmütterle sozusagen nicht aus den Kleidern. Eines Abends kam ich unbemerkt ins Zimmer, da kniete sie am Bett ihres Sohnes, seinen müden Kopf im Arme haltend und mit der anderen Hand eine kalte Kompresse auflegend. „Oh Mutter, Mutter – wie tut das gut“, stöhnte der Schwerleidende. Wie muss es der Mutter so wohl und so wehe gewesen sein bei diesen Worten! Am anderen Tage hatte der Kranke ausgerungen, er starb den Heldentod für das Vaterland.

 

Dies war wohl der härteste Schlag, der unser Großmütterle je betroffen, wir fürchteten für ihr Leben. Doch sie überließ sich nicht dem Schmerz, in doppelter Aufopferung, die sie nun den anderen Verwundeten zuteil werden ließ, suchte und fand sie Ablenkung, fand Trost in dem Gedanken: „wie gut habe ich es gehabt, dass ich meinen Sohn bis zum letzten Augenblick pflegen durfte, gegen andere arme Mütter, denen der Sohn im Feindeslande stirbt, ohne dass sie ihm noch etwas zu lieb tun können“.

 

Wie viel Sterbenden hat sie dann im Lazarett den Abschied leicht gemacht, hat mit ihnen gebetet, hat ihre Gedanken in die Heimat gerichtet und auf ein baldiges Genesen und Wiedersehen mit Eltern, Braut und Geschwistern hingewiesen, so dass mancher ruhig und friedlich bei ihren lieben, ermutigenden Worten eingeschlafen ist, des nahen Todes gar nicht bewusst.

 

Großmütterles Wohnung war das reinste Schmuckkästchen. Die alte Babette, welche schon über dreißig Jahre in ihren Diensten stand, hielt alles blitzblank. Im Weißzeugschrank roch es so gut nach getrocknetem Steinklee und Reseden – jedes Bund Wäsche war, wie zur Zeit der Aussteuer, mit blauen Bändchen umwunden – alles so rein, so lieb und mit so viel Interesse behandelt.

 

In ihrem „Pfeilerkommodchen“ hatte Großmütterle die Andenken aus ihrer Jugendzeit aufbewahrt, und wir durften unter ihrer Aufsicht alles betrachten, nur ihr sogenanntes „Stammbuch“, eine Art Album mit lose eingelegten Blättern bekamen wir nur bei festlichen Gelegenheiten zu Gesicht. Darin lagen vergilbte, beschriebene Blätter mit Kränzen aus Efeu oder getrockneten Blumen, andere, auf denen zwei verschlungene Hände gemalt waren, wieder andere mit kleinen Haarflechten verziert, und ganz zu unterst lag ein Blättchen extra eingewickelt, das sie uns nie zeigte.

 

Aber als ich einst an ihrem Geburtstag zum Gratulieren zu ihr kam, hatte sie es in der Hand, und ich durfte es sehen. Oben in der Mitte waren zwei verschlungene Hände, links in der Ecke ein rotes Herz, von einem Pfeil durchbohrt, und in der Mitte stand in großen, verschnörkelten Buchstaben geschrieben:

 

„Weil Ihnen der Geburtstag heut

gebührt, zu zelebrieren,

so will auch ich – meine Wenigkeit –

zum selben gratulieren“.

 

„In Verehrung der ehr- und tugendsamen Jungfer Charlotte gewidmet zum Geburtstag den 15. Jänner 1835, von Traugott Müller“. Wie mir Großmütterle später erzählte, war dies die erste Zeile, die sie von Großvaters Hand erhielt, als sie eine „ehr- und tugendsame Jungfer“ von achtzehn Jahren war.

 

Nach langem Leiden starb dann unsere arme Mutter, Großmütterle zog zu uns ins Haus, und so gelangte ihr Bild in den Besitz unseres Vaters. Was das liebe Großmütterle mir und meinen Geschwistern war, was wir ihr alles verdanken, kann ich in Worten gar nicht ausdrücken.

 

Die tiefe, reine Religiosität, die sie in der Betätigung des Spruches erfüllte: „liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst“, das heitere, kindliche Naturell, wohl eine Folge und der Lohn ihrer getreuen Pflichterfüllung, die Milde und Nachsicht, mit der sie die Fehler und Schwächen ihrer Mitmenschen entschuldigte, waren ihrem Wesen so selbstverständlich, so eigen, und prägten sich noch in ihren letzten Tagen auf ihrem freundlichen, ehrwürdigen Gesicht aus.

 

Im festen Vertrauen auf ein Wiedersehen ist sie sanft und selig entschlafen, und tief ergriffen falteten wir ihr die müden, welken Hände, die so sorglich für uns geschafft, drückten ihr die lieben, guten Augen zu, die so treulich über uns gewacht hatten. Schlaf wohl, du liebes Großmütterle, du.

 

Und ich an meinem Abend wollte,

ich hätte diesem Altchen gleich

getreu erfüllet meine Pflichten

und stürbe – so an Liebe reich.

 

Lina Sommer