Heiteres aus ernster Zeit

aus: Hausapothek (1933)

in Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten

 

(Die direkte Rede ist in pfälzer Mundart zu lesen; wenn sie hochdeutsch gelesen
wird, ergibt sich an vielen Stellen ein schlechtes oder sogar falsches Deutsch)


 

Froh, glücklich und sorglos, ich möchte fast sagen wie „die Vögel unter dem Himmel“ haben wir, meine Geschwister und ich, unsere Jugendzeit verlebt. Ein ernster Vater, der uns trotz aller Autorität stets den guten Freund herausfühlen ließ, ein liebes, sanftes Mütterlein, selbst noch Kind unter ihren Kindern, und ein allezeit heiteres Großmütterle, das nicht müde wurde, uns zu erzählen, auf uns einzugehen, wachten über uns. Der erste Schatten, der in unser sonniges Leben und Treiben fiel, die erste Sorge, die uns beschlich, war die Kriegserklärung 1870. Wie bang klopften da die kleinen Herzen in der Befürchtung: Die Franzosen kommen.

 

Ich war zu Ostern 1870 in Speyer in die Schule gekommen; wir hatten ein „bemoostes Haupt“, eine sogenannte „Alte“ in der Klasse; sie hieß Lenchen Schuster.  Ich glaube, dass sie schon wenigstens vier Semester in der untersten Klasse saß; vor dem Unterricht und in den Pausen von einer unglaublichen Mundfertigkeit, während des Unterrichts auf alle Fragen taub und stumm wie ein Fisch. „Aber ich bezwinge euch alle, ihr Mädchen“, rief sie uns zu, wenn wir etwas an ihr auszusetzen hatten, und mit diesem „Bezwingen“ und ihrem robusten Körper imponierte sie uns allen von der Ersten bis zur Zweitletzten;  denn die Letzte war sie selber. Sie hatte die Gabe, Geschichten zu erfinden und uns gruseln zu machen, und schlug daraus Kapital. Ihr, d. h. ihren Gespenster- und Räubergeschichten zuliebe kamen wir stets eine halbe Stunde vor Anfang in die Klasse, und dann ließ sie sich bitten: „Geh, Lenchen, erzähle uns doch etwas.“ „Jawohl-chen, aber zuerst gebt mir etwas, sonst wird nichts erzählt.“

 

Dann ging sie herum, einzusammeln, ein ganzes Brötchen, ein halbes Brötchen, Butterbrot, Obst, gerade wie es uns das mehr oder minder bemittelte Mütterlein eingepackt hatte; alles ließ sie in den unglaublich großen Taschen ihres Unter- und Oberrockes verschwinden. Hatte sie viel eingeheimst, so ließ sie wenigstens zehn Gespenster und Hexen aufmarschieren und von jedem wusste sie eine neue Schauermär. War sie sehr zufrieden, so spielte „ein großer Räuberhauptmann mit feuerroten Augen“ die Hauptrolle, und dabei behauptete sie stets: „es ist alles wahr, auf Ehre und Seligkeit.“  Brachte ihr das Einsammeln wenig ein, so hatte sie nur ein oder zwei Gespenster an Hand, was sie mit den Worten bekräftigte: „Ja, was bildet ihr euch denn eigentlich ein, ihr Mädchen, ein Apfel, ein Gespenst – viele Äpfel, viele Gespenster, ich werde doch nicht so dumm sein und für einen Apfel ein ganzes Dutzend Räuber her hexen.“

 

Die Kriegserklärung war nun ein gefundener Bissen für unsere Heldin:  „Wisst ihr denn schon, ihr Mädchen, was die Franzosen vorhaben“, fing sie eines Morgens an. „Ich kann es euch sagen, auf Ehre und Seligkeit, ich habe nämlich auch ein französisches Gespenst, das hat mir es heute Nacht erzählt. Ihr könnt euch darauf verlassen, kommen tun sie auf alle Fälle und zwar marschieren sie gerade über die Rheinbrücke herüber nach Speyer und auf unser Schulhaus los.  Da tun sie jedem Herrn Lehrer und jedem Kind den Kopf abschneiden und bringen eine lange Schnur und Packnadeln mit. In die Schnur tun sie jeden Kopf einfädeln mit einer Nadel, – zum einen Auge stechen sie herein, zum anderen Auge wieder heraus, – immer zuerst den Herrn Lehrer und dann die ganze Klasse, – und dann wieder einen Herrn Lehrer und wieder eine Klasse, – und so fort.  Zuletzt binden sie die ganze Geschichte mit einem Knippel (Knoten) zusammen und hängen die große Kette als Verzierung um den Dom herum. Aber ich habe mir es schon vorgenommen, wenn sie zu mir kommen, dann strecke ich die Zunge heraus, so lange als ich kann, und schneide eine Fratze, dass sie sich doch wenigstens über mich ärgern müssen.“ 

 

Als sie uns so in Angst und Schrecken hineingeredet hatte und wir uns um die Wette fürchteten, zog sie wieder andere Saiten auf und sagte: „Ich will mir es einmal überlegen, heute Nacht, und mit meinem deutschen Gespenst reden, ob ich sonst nichts für euch tun kann. Aber am Ende ist mein deutsches Gespenst schon fort in den Krieg, – na, – ich will einmal sehen, was ich mache.“

 

Am nächsten Morgen tat sie sehr geheimnisvoll: „Also mein deutsches Gespenst war heute Nacht noch da, jetzt ist es auf Paris, es hat mir aber vorher noch einen guten Rat gegeben, was wir machen sollen;  heute Mittag um vier, wenn die Schule aus ist, da gehen wir alle zusammen in den Domgarten, da erzähle ich es euch, der Herr Lehrer braucht es aber nicht zu wissen. Und bringt mir auch etwas mit, aber kein Brot oder Weck, lieber Schokolade oder Gutsel oder Zuckerstangen; versteckt es nur gut, das braucht der Herr Lehrer nämlich auch nicht zu wissen.“ 

 

An diesem Nachmittag hat Lenchen Schuster jedenfalls ihre beste Ernte gehalten, denn was opfert man nicht alles, um nicht als Verzierung am Speyerer Dom hängen zu müssen. Sie war scheint es, auch ganz zufrieden und sagte: „Also hört mir zu, was wir machen, aber ihr dürft es niemandem sagen.  Ich werde gut aufpassen, und wenn ich die Franzosen kommen höre, dann laufen wir alle miteinander an die Rheinbrücke. Und wenn sie drüben aufmarschieren, dann singen wir hüben ‚Die Wacht am Rhein‘, machen lange Nasen, strecken die Zunge heraus und kreischen: „Wartet nur, ihr Franzosen, uns kriegt ihr nicht, und dann hüpfen wir alle in den Rhein und ertrinken und versinken lieber, als dass sie uns die Köpfe abschneiden.“ 

 

Dieser Vorschlag fand allgemein Beifall, nur ich erklärte, „ich wolle doch zuerst meine Mama fragen, ob ich mittun dürfte.“ „Natürlich, du alte Klatschbase, du Mama-Kindlein, du willst auch noch lang fragen. Verrate mich nur nicht, das sage ich dir, sonst nehme ich dich überhaupt nicht mit. Also so wird es gemacht; ich springe zuerst, und ihr hüpft mir hinten nach.“ 

 

So gingen unter Fürchten und Hoffen die Tage und Stunden dahin. Am 2. August griffen die Franzosen Saarbrücken an, das von den Deutschen gegen die dreifache Übermacht geräumt werden musste. Zwei Tage später, am 4. August, erkämpften die Preußen und Bayern durch die Einnahme von Weißenburg den Vormarsch in das Elsass, und es herrschte bei uns in der Pfalz ungeheurer Jubel und Begeisterung über diesen Sieg. Am Abend des 5. August saßen wir wie gewöhnlich im Familienkreise beisammen, es wurden Vaterlandslieder gesungen, Charpie (Verbandmaterial) gezupft, und das einzige Gesprächsthema war der Krieg.  Da, mit einem Mal Sturmgeläute, Feueralarm, Schützensignal, und als man an die Fenster stürzte, zu fragen, was es denn gäbe, hieß es: „Die Franzosen kommen.“ Das war nun ein lähmender Schreck, ein Schlag aus heiterem Himmel. Die Tatsache, welche zu glauben man sich anfangs verzweifelt gewehrt hatte, sollte wahr werden, das Gefürchtete eintreffen. Auf der Straße schrien Frauen und Kinder;  – Erwachsene, um sich selbst und anderen Mut zu machen, sangen die Wacht am Rhein, – andere fingen an, planlos einzuräumen und zu verstecken, sämtliche Hunde gaben ihrem Patriotismus in dem wütendsten Gebell Ausdruck. Dazu immer der Ruf: „Lauft, lauft, die Franzosen kommen“; es war, als ob das Weltall in Flammen stünde und es kein Entrinnen mehr gäbe. 

 

Auch in unserer Wohnung hatte der lähmende Schreck bald dem Jammer und der Angst Platz gemacht, wusste doch jedes, dass Speyer total von Militär entblößt war. Unser altes Faktotum, der Schorsch, stürzte kreidebleich in das Zimmer, hinter ihm, lamentierend, die Dienstboten. „Ach Gott, Herr Müller, haben Sie es denn schon gehört, haben Sie es denn schon gehört, – die Franzosen kommen. 

 

Der einzig Besonnene und äußerlich Ruhige war unser Vater. Mit schweren Schritten ging er zum Schrank, holte Schützenhut, Rock und Flinte heraus und sagte zu Mutter, die tränenden Auges dabei stand: „Mach es mir nicht noch schwerer, es muss sein.“ Ein stiller Händedruck, und sie verstanden sich.  „Schorsch“, befahl er dann, „du bleibst zu Hause bei meiner Familie. Vorn nach der Straße alle Lichter löschen, alle Läden schließen, den Nero von der Kette lassen, euch alle in einem der hinteren Zimmer aufhalten.“ 

 

„Oh Jesses, oh Jesses, Herr Müller“, fiel er dem Vater in das Wort, „auf mich können Sie sich verlassen, ich gehe für Ihnen durch das Feuer, selbiges wissen Sie“, und als er noch fort und fort beteuerte, war der Vater schon weggegangen. Es wurde alles nach seinen Angaben besorgt, wir zogen uns in eines der hinteren Zimmer zurück; dort herrschte Totenstille:  Jedes lauschte, ob nichts von der Straße her zu vernehmen sei; das Großmütterle las mit zitternder Stimme aus dem Gesangbuch vor, wir alle erwarteten unser letztes Stündlein.

 

Langsam, unter Zittern und Zagen, schlichen uns die Minuten herum, da wird mit einem Mal fürchterlich an der Glocke gezogen, immer lauter, immer stürmischer, und mit dem Ruf: „Au weitsch, jetzt kommen sie“, sprach Schorsch unser aller Befürchtung aus. „Es wäre am Ende doch besser, Madame, wir täten uns alle im Keller verstecken, da drunten sind wir doch sicherer als da oben“, meinte er. „Nein“, wehrte die Mutter, „wir wollen lieber nachsehen, wer draußen ist, vielleicht schickt uns der Vater Nachricht.“ „Oh nein, oh nein, alles, was Sie wollen, meiner Seele, Madame, – ich gehe für Ihnen durch das Feuer, – aber die Haustür, die mache ich nicht auf.“

 

Unserem Mütterlein huschte, trotz des Ernstes der Situation, ein feines Lächeln über das Gesicht. Sie ging nun selbst hin, um zu öffnen und kam mit einem kleinen Zettel von Vaters Hand zurück. „Ängstigt euch nicht, – geht ruhig schlafen, es ist keine Gefahr“, las sie uns vor. „Ja, meiner Seele, mir wäre es Recht, wenn ich es nur auch glauben könnte“, meinte unser Schutzpatron; „es ist doch besser, ich bleibe auf meinem Posten.  Der Herr Müller hat mir seine Familie anvertraut, wer weiß, ob ich nicht noch nötig bin.“

 

Als nun der Vater nach einigen Stunden gesund und heiter nach Hause kam, war bald die Gemütsruhe wieder hergestellt, und der vermeintliche Überfall der Franzosen klärte sich folgendermaßen auf: 

 

Am Nachmittag des 5. August 1870 war bei der zuständigen Behörde in Speyer ein Telegramm eingelaufen mit der Meldung, dass die ersten gefangenen Franzosen unter bayrischer Begleitmannschaft per Bahn eintreffen würden, und dass alle in Speyer gespeist werden sollten. Eine Kompanie Badener sei, von Bruchsal aus, unterwegs, um die Gefangenen in Empfang zu nehmen und weiter zu eskortieren.

 

Als nun der Zug mit den Gefangenen avisiert, die Badener aber noch nicht in Sicht waren, wurde es dem Polizei-Inspektor angst und bange, denn es war doch immerhin eine verantwortliche, riskante Geschichte.  Wer konnte den Franzosen trauen bei der geringen militärischen Deckung, zumal es auf die Nacht zuging. Er hatte deshalb alle wehrbaren Männer alarmieren lassen, um den Sicherheitsdienst für die Stadt zu übernehmen.

 

Die Franzosen kamen also an, wurden mit tief-feierlichem Schweigen empfangen und im Zug gespeist.  Sie waren sehr unruhig und aufgeregt, so dass selbst unseren guten Pfälzern, – die doch, wie allbekannt, an „Babbeln“ und „Kreischen“ auch etwas zu leisten verstehen – ganz unheimlich zu Mut wurde. War das ein Schwadronieren und Parlieren in den Waggons – und Gutes planten die gewiss nicht – das konnte man wohl merken. 

 

Da kam dem Bahnhofs-Inspektor eine gelungene Idee: „Meine Herren“, wandte er sich an die zuständige Eskorte, „das Bahngleis nach Schifferstadt ist frei, – wie wäre es denn, wenn wir die Messieurs so ein bisschen zur Abkühlung hin- und her kutschieren ließen – immerfort von Speyer nach Schifferstadt und von Schifferstadt nach Speyer – so lange, bis die Badener kommen? 

 

Dieser von der Angst und dem Patriotismus eingegebene Vorschlag fand allgemeinen Beifall, und so wurden die ersten gefangenen Franzosen am 5. August 1870 von Speyer nach Schifferstadt und umgekehrt wohl drei Stunden lang spazieren gefahren, ohne dass sie etwas  davon ahnten, denn es war eine rabenschwarze Nacht.  So oft der Zug in den Bahnhof Speyer einlief, gab es ein allgemeines Hallo bei der biederen bayrischen Begleitmannschaft und den munteren Pfälzern; und als nun nach Mitternacht die Badener ankamen, ging die Ausladung mit militärischer Kürze und Sicherheit vonstatten.

 

Lina Sommer

 

Originalschreibweise:

 

folgt