Etwas von Dichtern und Denkern

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

Schon oft und oft bin ich gefragt worden, wie man zum Dichter und Schriftsteller wird, wie die Geschichten entstehen, woher die Einfälle und Ideen kommen, und da will ich heute mal ein bisschen aus der Schule schwatzen.

 

Guckt man doch auch mal gern in die Werkstatt der ehrbaren Zünfte, als da sind Bäcker, Schneider, Schuhmacher, um hinter ihre Kunstgriffe und Geschäftsgeheimnisse zu kommen – warum nicht auch mal in ein Werkstättel der Reimschmiede?

 

Das heißt: ein Werkstättel als solches hat ein rechter Dichter nicht – seine Werkstatt ist die ganze, große, weite, weite Welt. Er ist frei und ungebunden – beinahe hätte ich gesagt: Freiherr – und ist in der Beziehung viel besser dran als der Maler, der immer Gepäck hat.

 

Um ein rechter Dichter zu sein – es ist nämlich ein gewaltiger Unterschied zwischen ‚Dichter‘ und ‚Dichter‘ – muss man tief blicken können; man muss wissen, wie viel lichter, heller Humor oft in der vermeintlichen Tragik liegt und wie viel erschütternde Tragik sich oft unter dem Humor verbirgt. Man muss sich selbst vollständig aufgeben und ganz in seinen Mitmenschen aufgehen.

 

Man muss sie lieb haben in all ihren Schwächen, in ihrer köstlichen Kurzsichtigkeit und Anmaßung, in ihrer Stärke und stillem Heldentum, in ihrer Freude und ihrem Leid.

 

Wem nicht bei anderer Missgeschick

die Träne im Auge steht,

wer nicht selbst durch Sorge und Herzeleid,

Entbehrung und Mühsal geht,

der wird – und hätt er das Zeug dazu –

sein Lebtag kein echter Poet.

                   

Wie man das Dichten lernen kann ? Überhaupt nicht – nie und niemals, so wenig wie das Singen. Man muss dazu veranlagt sein, es ist sozusagen ein Extra-Präsentel vom lieben Herrgott. Reimkunst, Gesang, lässt sich lehren und lernen – singen und dichten niemals, es muss in der Kehle und in der Seele liegen.

 

Jeder echte Dichter ist auch gleichzeitig Maler und Sänger; er zaubert uns schöne Bilder und Melodien vor Augen und ins Herz. Wenn man einem Gemälde oder einem Gedicht die Arbeit, den Schweiß des Angesichts anmerkt oder ansieht, so ist es von vornherein kein Kunstwerk. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen Handwerk und Kunst, zwischen Reimen und Dichten.

 

Ein recht Gedicht – ob groß, ob klein,

ein recht Gedicht – muss just so sein,

als hätte es kein Mensch erdacht,

kein Mensch in Reim und Vers gebracht,

als wäre es – zur Freud von allen,

direkt vom Himmel heruntergefallen.

 

Wie kommst du auf all die Gedanken? Auf diese Frage habe ich mal einer Bekannten geantwortet: Liebe, die schickt mir unser Herrgott alle per Extra-post, weil ich es bin, verstanden?

 

Diese scherzhafte Antwort hat eine gewisse Berechtigung; denn man sucht sie nicht, die Ideen, sie kommen direkt auf einen zu, oft ganz überwältigend. Alles formt sich zu Reim und Lied, man muss eben einfach – kategorischer Imperativ – mitteilen, was in der Seele singt und klingt, frohlockt und jubelt, klagt und weint.

 

Nichts Menschliches darf einem Dichter fremd sein; er ist hundertfach gesegnet und hundertfach gestraft, oder besser gesagt: gequält, weil das Leid der ganzen Menschheit das seine ist. Die tiefsten und wertvollsten Gedichte sind jedenfalls diejenigen, die man aus seiner eigenen Seele schöpft. Ich möchte hier einige anführen.

 

Glockenläuten

 

Wenn hoch vom Turm die Glocken

den Sonntag läuten ein,

dann räum ich still zusammen

und stell die Arbeit ein.

 

Ich geh hinaus ins Freie

und lausche ihrem Klang,

er zieht mir durch die Seele

wie mächtiger Chorgesang.

 

In ihrer eigenen Sprache

erheben sie das Herz,

und lenken die Gedanken

und Blicke himmelwärts.

 

Sie künden und sie sagen

von jener großen Ruh,

der – unter Last und Mühsal –

wir alle wandern zu.

 

Herbstabend

 

Vorm netten, kleinen, sauberen Häuschen

Großmütterlein sitzt auf der Bank,

die letzten Sonnenstrahlen huschen

am wilden Wein durchs rot Gerank.

 

Sie hat die müden, welken Hände

im Schoß gefaltet, fromm und sacht,

von fern her tönt das Abendglöckchen,

leis zieht und still herauf die Nacht.

 

Großmütterlein, willst mir nicht sagen,

was du denn gar so heiß erfleht,

weil solch ein seltsam großes Leuchten

in deinen guten Augen steht ?

 

Ich betete für meine Lieben

und – hat sie leis hinzugefügt –

für jeden Menschen, der auf Erden

in dieser Stund‘ im Sterben liegt.

 

Habt mich doch auch ein bisschen lieb!

 

Seit´s Mütterlein ist heimgegangen,

wie ist Klein-Lieschen so allein;

und war doch ihrer Eltern Freude,

ihr lieber, lichter Sonnenschein.

 

Die neue Mutter ist gekommen,

nimmt freundlich sich des Kindes an;

doch seit das Brüderchen geboren,

kennt sie nur ihn, den kleinen Mann.

 

Stolz ist der Vater auf sein Bübchen,

das lustig wächst und froh gedeiht,

er spielt mit ihm, er lässt es reiten,

ihm widmet er die freie Zeit.

 

Leis kommt Klein-Lieschen hergeschlichen,

das Herzel schwer, die Äuglein trüb,

und sagt mit weher, zager Stimme:

habt mich doch auch ein bisschen lieb.

 

Liedel klein

 

Wo schick ich es hin, mein Liedel klein ? –

zu dir !

ich kenne dich nicht, und du kennst mich nicht,

wir sahen uns nie von Angesicht,

wir haben uns nie gegeben die Hand

und sind uns doch vertraut und bekannt.

 

Was soll‘s wohl bringen, mein Liedel klein ? –

zu dir ?

soll bringen Freud und Sonnenschein

zu allen Fenstern und Türen herein,

soll sagen mit hellem, frohen Mut:

grüß Gott, grüß Gott, du ich bin dir gut,

und ich habe dich lieb, gelt, du weißt es ja,

wir kennen uns nicht – und sind uns doch nah.

 

Auch die Gedichte, die man in Ernst und Scherz sozusagen aus dem Leben auf der Straße aufliest, tragen immer den Stempel der Persönlichkeit des Autors, denn er nimmt den Stoff in sich auf, verarbeitet ihn und gibt einen Teil seines Ichs dazu.

 

An einem wundervollen Sonntagnachmittag war ich mit meinen Kindern in einem Gartenkonzert. Am Tisch uns gegenüber nahm ein alter, korpulenter, jovialer Herr mit schneeweißem Haar Platz, dem die Pfiffigkeit, die Lebens-freudigkeit und auch der Weinkenner auf dem Gesicht geschrieben stand.

 

Er sah urgemütlich aus, trällerte allerhand Melodien vor sich her – kurzum, ich hatte meine helle Freude an diesem Lebenskünstler und dachte:

 

wart, Alterle, dich nehm ich auf; und bald war auch das Gedicht fertig.

 

Der fidele Großpapa (in Mundart zu lesen)

 

Rote Backen, helle Augen,

und ein pfiffig, lustiges Gesicht,

stillvergnügt und unverwüstlich,

immer schön im Gleichgewicht.

 

Oft betrachtet er sich im Spiegel,

voller Sorgfalt kleidet er sich,

und die lieben, jungen Mädchen

hat er gar nicht auf dem Strich.

 

Er ist auch kein Kostverächter,

guckt in alle Häfen (Töpfchen) hinein,

macht der Köchin Komplimente,

raucht sein Pfeifchen, trinkt seinen Wein.

 

Für ein Küsschen, schön in Ehren,

ist er sehr empfänglich auch,

der gesunde, kugelrunde,

der fidele Großpapa.“

 

Als das Gedicht, köstlich illustriert von Prof. Oberländer, in den ‚Fliegenden Blättern‘ erschien, tat es mir leid, dass ich die Adresse des Großpapas nicht wusste; ich hätte ihm gerne eine Nummer geschickt, und ich bin fest überzeugt, er hätte herzlich über sein Konterfei gelacht. Nämlich, nicht jedermann versteht Spaß.

 

Gewöhnlich lassen sich die Menschen, die hoch stehen und einen weiten Blick haben, gerne verulken – verulken sich auch mal selbst – während die mit engem Horizont die Beleidigten und Gekränkten spielen.

 

Ein anderes Gedicht. In unserem Bekanntenkreis war ein junger Mann, der verschiedenen jungen Damen den Hof machte, sich auch überall als ‚lieb Kind‘ einschmeichelte und dabei vorzüglich gedieh. Auf ihn waren die Verse gemünzt:

 

(in Mundart zu lesen)

 

Sage mir, Georg, wie bringst du es fertig,

dein Salär ist doch nur knapp –

bist so wohlgenährt, so lustig,

und es geht Dir gar nichts ab.

 

Überall kann man Dich treffen,

bald bist Du da und bald bist Du dort,

hast Krawatten, Zigaretten,

von der allerfeinsten Sorte.

 

Und der Georg pfeift sich ein Liedlein,

reibt vergnügt die Hände dazu,

und dann lacht er und dann sagt er,

so ein rechter Erz-Filou: (Gauner)

 

Mich drückt kein Schuh, ich habe keine Sorg´,

ich „bräutigammle“ mich so durch.

 

Auch sein Freund hat ähnlich sein ‚Fett‘ bekommen.

 

Der Jakob (in Mundart zu lesen)

 

Ein schwarz-brauner Schnurr(es)bart

und Zähne blitzeblank,

ein Wuchs wie ein Bäumchen,

so gerade und so schlank.

 

Den Kopf voller Borsten,

die Haut sonnverbrannt,

zwei Augen so feurig

und voll Temperament.

 

Eine Feder am Hütchen,

ein Mundwerk, so forsch,

den Buckel voll Schulden,

ein Staat von einem Burschen.

 

Eine Dame, die in einem Badeort viel Aufsehen erregte, verewigte ich in dem Gedichtel:

 

Die Laura (in Mundart zu lesen)

 

Die Laura trägt einen Federnhut,

geht meistenteils „en coeur“

und elegant bis ins Detail –

so kommt sie halt daher.

Sie tanzt, sie raucht, sie fechtet, sie schwimmt

und spielt eine große Rolle,

sie deklamiert und musiziert

in Dur und auch in Moll.

Leger, kokett, fidel, frei, froh,

kurzum – eine Wittfrau „comme il faut !“

 

In demselben Ort begegnete mir, kurz ehe ich abreiste, auf der Straße eine liebe, alte, feine sonderbare Gestalt, die es mir gleich antat. Leider konnte ich damals nichts Näheres über sie erfahren, und das tut mir heute noch leid, ich hätte ihr sonst doch vielleicht ein bisschen Freude bringen können in ihr offenbar sehr mühseliges Leben.

 

Als ich nach Jahr und Tag wieder kam und mich erkundigte, erfuhr ich, dass sie eines Morgens tot in ihrem kleinen Stübchen gefunden – an Hunger und Entbehrung jeder Art war sie eingeschlafen.

 

Unterwegs (in Mundart zu lesen)

 

Bin heute durch eine Gasse gegangen

in einem Städtchen, klein und alt,

da kommt, zierlich und manierlich,

so eine schmächtige Gestalt.

 

Ein Gesichtlein eingerahmt von Locken,

und so nett, so lieb, so zart,

so eine feine, so eine reine,

so eine ganz aparte Art.

 

Dünne Zeugschuh an den Füßchen

und ein Röckchen mit einer Schleppe,

ein verschlissenes Seiden-Blüschen

und ein Hütchen, alt und schepp.

 

Und eine Mantille, so verschossen,

so verflickt, dass Gott erbarm,

trotz der offenbaren Armut

so ein ausgeprägter Charme.

 

Liebes, armes, feines Altchen,

habe ich leis bei mir gedacht,

dir auch hat gewiss das Leben

nichts erspart und nichts geschenkt.

 

Gerne hätte ich ein Wörtlein gesprochen,

doch es ist mir nicht geglückt,

leise nur, im Vorübergehen,

habe ich die schmale Hand gedrückt.

 

Ich möchte noch so vieles aufschreiben, in Ernst und Scherz, aber der Raum ist knapp, und zudem ist ja alles in meinen verschiedenen Büchern gesammelt.

 

Kein Beruf ist aufreibender, keiner mühseliger und dornenvoller und reicher an Enttäuschungen als der des Schriftstellers und Dichters, namentlich am Anfang der Laufbahn. Das ewige Produzieren reibt so auf. Und wo dieser Beruf auch das liebe Brot bringen soll, da ist es oft zum Verzweifeln, und es spielen sich Kämpfe ab im stillen Kämmerlein, von denen niemand einen Begriff hat.

 

Große Genugtuung lösen dann aber auch die Hunderte von Zuschriften aus, die danken und sagen, dass man den Mitmenschen etwas gegeben hat, ihnen – auch ohne persönliches Bekanntsein – etwas sein und sie erfreuen kann; das versöhnt wieder. Auch hiervon ein kleiner Beweis – ich denke, ich begehe keine Indiskretion. Am 1. November 1914 kam ein Brief aus Berlin:

 

‚Verehrte, liebe Frau! Es war einmal ein Freundeskreis, eine liebe, mütterliche, feine Frau in ihrem gastlichen Haus, ein paar lebensfrohe Mädels und ein junger Pfälzer, dem schwere Lebensschicksale seinen sonnigen Humor nicht hatten nehmen können, der aber nie die stille Wärme eines Familienlebens hatte spüren dürfen.

 

Es war wunderschön, man sang, man musizierte, man las vor, man stritt und neckte sich und suchte sich das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Wie oft schwärmte er von seiner geliebten Pfalz, und eines Abends las er uns vor aus einem Buch, das er sich geliehen hatte, es hieß ‚E Pälzer Blumeschtreißl‘. Er sagte, es sei sein liebstes Buch, sein Trost in Heimwehstunden. Es war so ein herrlicher Abend.

 

Dann kam der Krieg, am zweiten Tag zog er glühend begeistert hinaus, ich gab ihm Ihr Büchlein mit. Nun ist er gefallen in Frankreich, und ich habe das ‚Blumeschtreißl‘ wieder in der Hand, und es erzählt von fleißigem Gebrauch, – Heu und Stroh vom Unterstandslager sind darin, und viele schmutzige Fingerabdrücke.

 

Warum ich Ihnen das schreibe? Weil ich glaube, es wird sie freuen, solche Freudenbringerin gewesen zu sein. Ich habe ihn so lieb gehabt, und deshalb möchte ich Ihnen danken‘. Diese schlichten Worte mit ihrem tiefen Weh: ‚Ich habe ihn so lieb gehabt‘, haben mich in innerster Seele ergriffen und klingen und klingen heute noch nach.

 

Zuweilen passieren auch ganz köstliche Sachen. Durch die Redaktion der ‚Fliegenden Blätter‘ bekam ich einen Brief von einer Dame aus Magdeburg, worin sie mir in einem ‚geharnischten Sonett‘ (gesalzen und gepfeffert) mitteilte, sie verbäte sich jede weitere Anzüglichkeit, das Gedicht ‚Witte – witt – witt‘ könne doch nur für sie und ihren Fritz gemeint sein.

 

Nein, ich habe - leider – nicht das Vergnügen, Frau Emilie und ihren Fritz zu kennen, der Kuriosität halber schreibe ich das ‚Ärgernis‘ auf:

 

Witte – witt – witt, ei warum nicht?

 

Es tut ein alter Wittmann (Witwer)

im Tageblatt annoncieren,

dass er eine Frau, eine liebe

möchte wieder heim sich führen.

Witte – witt – witt

ei, warum nicht ?

 

Es schreibt eine alte Wittfrau (Witwe)

mit Seufzern und mit Stöhnen

dem ausgeschriebenen Wittmann

einen Brief – einen rechten schönen.

Witte – witt – witt

ei, warum nicht ?

 

Der Wittmann sieht die Wittfrau

und ist ganz voll Entzücken,

witt (willst Du) mich, so sagt er zu ihr,

als Wittmann noch beglücken ?

 

Die Wittfrau findet am Wittmann

keinen Tadel und kein Härchen –

Alt-Wittmann und Alt-Wittfrau

sind jetzt ein junges Pärchen.

Witte – witt – witt

ei, warum nicht ?

 

Jetzt noch etwas vom Humor. Der echte Humor ist, wie Carmen Silva sagt, ‚rührend und ergreifend, ist eine besondere Gottesgabe, ist Güte, Liebe, Abgeklärtheit und der Weg dazu führt durch Mühsal und Herzeleid‘. Echter Humor ist nie oberflächlich, nie aufdringlich und verletzt nie. Selbst wenn er mal ein bisschen spöttelt und neckt, spürt man die Herzenswärme heraus. Humoresken und humoristische Gedichte haben oft den tiefsten Sinn, – und auch ein gut Tröpfchen Wehmut liegt immer darin.

 

Lina Sommer