Ein Wiedersehen

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch - direkte Rede in Mundart)

 

Vor langen Jahren – an einem schönen September-Abend – kam in einem kleinen Häuschen in der Herdgasse in Speyer, ein hübscher, schlanker, junger Mann vom Geschäft nach Hause, setzte sich zur Mutter an den gedeckten Tisch, und als sie gegessen hatten und die alte Frau sich anschickte, abzuräumen, sagte er: „Mutter, was pressierst du denn so? Geh, bleibe doch noch ein bisschen sitzen, ich habe dir etwas zu sagen.“

 

„So, so, du hast mir etwas zu sagen, willst du vielleicht wieder da anfangen, wo du gestern aufgehört hast?“ „Ja, das will ich, wir müssen uns einig werden – ich habe mir es noch einmal überlegt – da beißt keine Maus keinen Faden ab – ich gehe auf Amerika.“ „Und ich habe gedacht, Konrad, du hättest inzwischen Verstand angenommen, und hättest dir die Possen aus dem Kopf geschlagen.

 

Wenn du denn wegen dem Mädchen partout nicht hier bleiben willst, dann gehe hinüber ins Bayrische – oder gehe in Gottes Namen ins Preußische – da bist du doch nicht aus der Welt.

 

Das sage ich dir, wenn ich die Krott (=nettes kleines Mädchen), die Liesel, einmal allein erwische, der will ich es stecken. Die ist ja an dem ganzen Schlammassel schuld. Zuerst hat sie dir alle Avancen gemacht, und wie dann der alte, reiche Fabrikant gekommen ist und ihren bankrotten Leuten wieder auf die Beine helfen will, dann hat sie dich fahren gelassen.“

 

„Kein Wort mehr über die Liesel, selbiges bitte ich mir aus, Mutter. Erstens hat sie mir keine Avancen gemacht – zweitens kenne ich sie besser wie du, und weiß ganz genau, wie es ihr zu Mut ist, dem armen Ding. Ich will nichts mehr über sie hören – verstanden?“

 

„Auch gut, verbiete mir den Mund. Jeden Brocken habe ich mir abgespart, dass ich alles für dich erhalte – und dass du auf die Baugewerkschule gekonnt hast – und das ist jetzt mein Dank – gelt. – Wenn es dein Vater selig wüsste, dass du mich auf die alten Tage allein lassen willst.“

 

„Sapperlot noch einmal, Mutter, höre mir auf zu weinen, das kann ich nicht sehen; ich will dich ja nicht allein lassen, – lass mich doch einmal reden – ich will dir erzählen, wie ich mir alles ausgedacht habe.“

 

„Spare dir die Mühe, ich lasse mir von dir keine Vorschriften machen, das täte mir gerade noch fehlen.“

 

„Gut, Mutter, du sollst deinen Willen haben, ich bleibe da. Aber wenn ich dem Schwittieh, der wo mir die Liesel ausgespannt hat, einmal an die Gurgel springe – dann hast du es – du ganz allein hast es auf dem Gewissen.“ Mit diesen Worten nahm der junge Mann seine Mütze, stürmte zur Tür hinaus, dass sie krachend ins Schloss fiel und ließ sich an diesem Abend nicht mehr sehen.

 

Als er lange nach Mitternacht in seine Kammer trat, lag auf seinem Bett ein Zettel: „Konrad, du darfst auf Amerika.“ Außer, dass sie sich die Zeit boten, sprachen Mutter und Sohn in den nächsten Tagen nichts miteinander, keines wollte den Anfang machen. Doch am Sonntag, als sie von der Kirche heim kamen, lenkte Konrad ein:

 

„Also Mutter – jetzt höre einmal – es wird Zeit, dass wir uns bereden, – in zehn Tagen geht mein Schiff. Guck – ich habe mir es so gedacht: wenn ich fort bin, nimmst du die gute Seele, die Lene-Base, zu dir, und gibst ihr meine Kammer, dann bist du nicht allein und verlassen. Ich weiß, du hängst an ihr und sie hängt an dir, und gerne kommen tut sie auch, ich habe sie schon gefragt.“ – „Guck einmal, der Herr Sohn, alles hinter meinem Rücken.“

 

„Nein, Mutter, so musst du nicht sagen, ich bin kein Duckmäuser. Bringe mich nicht aus dem Konzept, ich bin gleich fertig. Guck, mein Sparkassenbüchlein muss ich freilich mitnehmen, aber deswegen brauchst du keine Not zu leiden. Die Miete von der Partei oben drin und die Pacht für die drei Äcker wird ja immer pünktlich bezahlt, und unser Gartengrundstück mit den Obstbäumen und unserem Kartoffelacker könnt ihr zwei ganz gut versehen.

 

Und wenn ja alle Stricke zerreißen sollten, dann verkaufst du halt einen Acker. Du musst mir versprechen, dass du dir nichts abgehen lässt. Wenn eine Zeitlang herum ist, und ich habe festen Boden unter den Füßen, werde ich schon für dich sorgen. Und dass du dir wegen mir keine unnötigen Sorgen machst, will ich dir auch noch sagen, dass ich zuerst einmal zum Vetter Jean-Battist seinem Sohn, zum Jakob auf New York gehe.

 

Er hat mir es angeboten, und von dort aus hilft er mir weiter. In ein paar Jahren komme ich wieder, Mutter, und wer weiß, vielleicht wanderst du dann mit mir aus.“ „Lass die Possen, Schotebless, da kannst du lange warten, in Gottes Namen stoße dir die Hörner ab“, wehrte die alte Frau. In der nächsten Woche stickte und strickte sie darauf los, dass es nur so eine Art hatte, und praktizierte auch manch neues Stück ungesehen in den bereitstehenden Koffer.

 

Es war zwei Tage vor seiner Abreise, da zog Konrad gegen Abend seinen Sonntagsanzug an und schlich sich sachte und scheu aus dem Haus. Die Mutter hatte es gemerkt, ging ihm nach, und als sie ihn dann, den Hut in der Hand, in stillem Gebet an dem Grab seines Vaters stehen sah, musste sie sich Gewalt antun, dass sie nicht auf ihn zuging, nicht zu ihm sagte „du bist mein lieber Bube“.

 

Von einem anderen Abschied sah und hörte sie freilich nichts. Da stand ihr Sohn mit einem ranken, schlanken Mädchen beisammen, das die Arme um seinen Hals legte und mit tränenerstickter Stimme schluchzte: „Gelt, Konrad, sei nicht böse mit mir, behalte mich lieb wie ich dich. O, wenn ich doch mit dir könnte, weit, weit fort von hier“.

 

Wie ein frohes Aufleuchten zuckte es bei diesen Worten über das Gesicht des jungen Mannes, doch nach kurzem Besinnen sagte er wehmütig, wie zu sich selber: „es geht nicht, es geht nicht“. Und als sie sich dann zum letzten Mal die Hände drückten, sang ein Vöglein hoch im Baum über ihnen das alte, ewig neue Lied vom Scheiden und Meiden:

 

Wenn sich zwei Herzen scheiden,

die sich dereinst geliebt,

das ist ein großes Leiden,

wie ´s nimmer größeres gibt.

 

Wie klingt das Wort so traurig gar

Fahr wohl – fahr wohl – auf immerdar,

wenn sich zwei Herzen scheiden,

die sich dereinst geliebt.

 

Konrad war abgereist, die Lene-Base war ins Haus gekommen, still und einsam verbrachten die beiden Frauen ihre Tage, und ihr ganzes Sinnen und Denken drehte sich natürlich um den Auswanderer. „Vor fünf bis sechs Wochen werden wir keinen Brief von ihm kriegen, so lange dauert es, bis er drüben ist und bis der Brief herüber ist“, meinte die Mutter.

 

Aber es waren noch nicht viel über vierzehn Tage vergangen, da rief sie eines Morgens in heller Aufregung: „Lene-Base, Lene-Base, wo steckst du denn, tapfer komme einmal her, es wird mir ganz schwarz vor den Augen. Alleweil hat der Briefbote eine Karte mit dem Konrad seiner Schrift aus Hamburg gebracht. Wie geht denn das jetzt zu? Der ist vielleicht gar nicht auf Amerika, der ist am Ende in Hamburg geblieben, der Filou, und hat uns eine Komödie vorgespielt.“

 

„Nein, Sannchen, selbiges tut der Konrädel nicht“, wehrte die Lene-Base, „da weise einmal her. Guck, da steht es ja: ‚liebe Mutter, bin eben gesund in New York gelandet‘. Was willst du denn noch mehr? Halt, alleweil geht mir ein Licht auf: die Karte hat er gewiss in dem Reisebüro geschrieben, ehe dass er fort ist, und hat Auftrag gegeben, sie sollen sie expedieren, wenn der Telegraph meldet, dass das Schiff drüben angekommen ist.

 

O Sannchen, was hast du für einen guten, braven Buben, und wie hast du ihn als abgekanzelt und heruntergeputzt.“ „Sei still, das sind meine Sachen, das geht dich nichts an, Lene-Base, kurz und streng muss man die Kinder halten, wenn sie etwas werden sollen.“

 

Mit diesen Worten ging die Mutter zur Türe hinaus in den Buchbinderladen gegenüber, verlangte ein Mäppchen Papier „aber vom Besten“ und „eine Feder, die wo nicht kratzt und nicht spritzt“, und schrieb mit vieler Mühe und Kopfzerbrechen:

 

Geliebter Sohn Konrad!

Indem dass wir eben deine Karte erhalten haben, und indem, dass du gesund auf Amerika gelandet bist, kann ich dir dasselbe auch von uns sagen. Hoffentlich ist dir unterwegs nichts gestohlen worden und gib gut Obacht auf die neuen Hemden, dass die in der amerikanischen Wäsche nicht verhunzt werden, nicht kochen, nur lauwarm waschen und schwenken. Dein Leben lang habe Gott vor Augen und im Herzen und hüte dich, dass du in keine Sünde willigst noch tust wider Gottes Gebot. Geliebter Sohn, es grüßt dich deine Mutter

Susanna Eckhardt, geborene Schmitt.

 

Mit viel Feierlichkeit und Umständlichkeit wurde der Brief adressiert, zur Post gebracht und frankiert, und es dauerte nicht mehr lange, da traf ein großes Schreiben aus Amerika ein. „Lass mich doch auch mitlesen“, sagte die Base, wurde aber mit den Worten abgefertigt: „ach, was fällt dir ein? Ist das vielleicht dein Bube, oder ist es mein Bube – ist das vielleicht dein Brief oder ist es mein Brief? Warte, bis ich fertig bin, dann tust du alles erfahren.“

 

Nachher ging es dann ans Erzählen und die ganze Nachbarschaft, die halbe Herdgasse und die Lene-Base kamen wahrlich nicht zu kurz. Auch sie erhielt bald Nachricht von Konrad und in der Antwort teilte sie ihm mit, dass Liesel „eine große, noble Hochzeit“ gehabt hätte, in einer feinen Villa in Mannheim wohne und dass ihre Angehörigen ‚ihre Leute‘ in Speyer nicht mehr wüssten, wie hoch sie ihre Köpfe tragen sollten.

 

Die Zeit verging, es wurde Frühjahr, es wurde wieder Winter, die Briefe Konrads waren der Pol, um den sich alles in dem kleinen Häuschen drehte. Er bekleidete einen sehr verantwortlichen, selbständigen Posten als Bauführer in Cincinatti und hatte sich durch treue, gewissenhafte Pflichterfüllung der ganz besonderen Wertschätzung seines Brotherrn zu erfreuen.

 

Nur einmal wusste dieser nicht, woran er war; da hatte der junge Mann sich eingeschlossen und war nicht zu bewegen, in das Geschäft zu kommen. Wie abwesend saß er da und starrte auf einen Brief seiner Mutter, der am Morgen eingetroffen war. „Geliebter Sohn Konrad“ schrieb sie, „ich muss dir eine traurige Mitteilung mitteilen. Die Liesel ist in ihrem ersten Wochenbett gestorben. Und das Kind auch. Gott hab sie selig, sie hat es nicht gut bei ihm gehabt, sonst wär sie noch da, damit du es weißt.“

 

„Was Gott tut, das ist wohlgetan.“

 

Gegen Abend litt es Konrad nicht länger im Zimmer, er stürmte planlos hinaus. Als die ersten Sternlein in all ihrer Pracht am Himmel aufgingen, wurde er ruhiger. Er hielt stille Zwiesprache mit seiner Liesel und heiße wehe Tränen erleichterten ihm das Herz.

 

Wie klingt das Lied so traurig gar

Fahr wohl – fahr wohl – auf immerdar,

wenn sich zwei Herzen scheiden,

die sich so treu geliebt.

 

„Du, Lene-Base, meinst du nicht auch, der Bube könnte jetzt einmal heim kommen, es sind doch schon fünf Jahre, dass er fort ist, der Schlackel – soll ich ihm einmal einen kleinen Stumper geben?“

 

„Ja, Sannchen, das kannst du ja machen“ – „aber ich glaube mein Lebtag nicht, dass es etwas nützt – ich habe da so meine ganz besonderen Gedanken. Warum schreibt er denn alleweil so oft von seinem Prinzipal seiner Tochter, von der Miss Maud, die wo der Liesel so ähnlich sehen soll.

 

Jerem, jerem, wie kann man ein Kind Missmaud heißen, der Name steht ja in gar keinem Kalender. Und warum schreibt er Miss Maud immer in zwei Wörtern? Man schreibt doch Evegret und Annelies in einem Wort. Du wirst erleben, da bändelt sich etwas an.“

 

„Du kämst mir recht mit so einer Amerikanerin als Schwiegertochter, die wo am Ende nicht einmal ein paar Strümpfe stricken und keine ordentliche Kartoffelsuppe und keine Leberknödel kochen kann. Ich werde mir doch die gute Rasse nicht verderben lassen.“

 

Da kannst du beruhigt sein, Sannchen, wenn der Konrädel eine wählt, da weiß er schon, was er tut – der nimmt keine Unrechte,“ unterhielten sich die beiden Frauen eines Abends.

 

„Dich sollen ja hundert Kröten petzen mit deiner Prophezeierei“, rief die Mutter einige Tage später, als ihnen ein Telegramm Konrads Verlobung anzeigte. Und dann kam bald ein großer glückstrahlender Brief mit der Mitteilung, dass er nächstens Hochzeit hätte, und das Geschäft seines Schwiegervaters übernehmen würde, sobald er mit seiner jungen Frau von der Hochzeitsreise, die natürlich in die Heimat der Mutter führe, zurück wäre.

 

„Also jetzt hast du deinen Wunsch erfüllt, Sannchen, jetzt kommt er gar zu zweit“, sagte die Base zur Mutter, die sich heimlich und verstohlen die Tränen aus den Augen wischte.

 

„Da müssen wir uns aber ein bisschen nobel machen“, fuhr sie fort, „für was liegt denn das viele Geld vom Konrad in deiner Schublade? Wir lassen unser Häuschen frisch anstreichen – lila, meine ich – und lassen die Stuben tapezieren, und eine neue Einrichtung ins Schlafzimmer muss auch her. Du kannst doch dieser Missmaud wahrhaftig nicht zumuten, dass sie in deinen alten Federbetten schläft.“

 

„Lene, sind das deine Sachen oder sind das meine Sachen? Nichts wird gemacht, es bleibt alles, wie es ist; was mir und was meinem Konrädel gut genug gewesen ist, kann anderen Leuten auch recht sein“, trumpfte die alte Frau auf. Gekocht wird auch nicht anders wie sonst, gleich am ersten Abend gibt es Pellkartoffeln und weißen Käse – und wenn das der Missmaud nicht passt, soll sie in Gottes Namen hinauf in den Pfälzer Hof und soll sich dort servieren lassen. Fertig, meine Küche – es bleibt dabei.“

 

„Geh, Sannchen, wer wird sich denn so echauffieren, das ist dein letztes Wort noch lange nicht, wir haben ja noch Zeit genug zum Überlegen , es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht ist“, fiel ihr die Lene ins Wort.

 

Im Stillen machte die Mutter so allerhand Plänchen, bis eines Tages ein Telegramm meldete, dass die Hochzeit stattgefunden habe, die Reise aber wegen plötzlichen Ablebens des Schwiegervaters auf unbestimmte Zeit verschoben werden müsse.

 

„Hätte der dumme dappige Amerikaner jetzt nicht ein bisschen später sterben können, anstatt mir die ganze Pläsier zu verderben“, grollte die alte Frau. „Wer weiß, wann ich jetzt meinen Buben wieder sehe, ob ich ihn überhaupt noch einmal sehe“. „Na, höre einmal“, tröstete die Base, „wenn man noch so alert ist, und so eine Postur hat wie du, da kann man noch vierzig Jahre leben und darüber hinaus – gehe, lass dich nicht auslachen.

 

Die Zeit verging, die Jahreszeiten wechselten, es liefen glückstrahlende Briefe ein; die junge Frau schrieb in Englisch – Konrad verdeutschte es – und oft sprachen die beiden einsamen Frauen von dem Besuch, der ja – wie Konrad versicherte – nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben war.

 

Als dann später die Nachricht kam, dass die jungen Leute sich ein Baby bestellt hätten und dass die Mutter in diesem Jahr noch Großmutter würde, nahm die alte Frau trotz strömenden Regens ihr Umschlagtuch und ihr Capottchen und auf die Frage: „wo willst du denn hin? Sannchen, bleibe doch daheim, es gewittert ja“, bekam die Base zur Antwort: „wo werde ich hin wollen? Hinaus auf den Kirchhof will ich – und will es meinem Christian erzählen.“

 

Nun hätte einer mal die alte Frau sehen sollen, wie sie oft in stiller Verklärung am Fenster saß und in die Ferne blickte, wie die Nadeln fröhlich in ihren fleißigen Händen klapperten und wie Lätzchen und Jäckchen sich ansammelten.

 

„Weißt du, Lene“, meinte sie, „es ist mir nur, dass das arme Kind nicht von vornherein lauter amerikanisches Lumpenzeug auf den Leib kriegt, das hat ja keinen Halt und kein Ansehen. Da gucke einmal her, wie solide meine Arbeit ist“, was die Lene-Base mit den Worten bekräftigte: „ja, da kann noch ein halbes Dutzend kommen, und sie reißen es nicht kaputt“.

 

Dem ersehnten Telegramm, dass ein kräftiger Junge eingetroffen sei, folgte ein Brief, in dem die Großmutter hoch und heilig gebeten wurde, zur Taufe hinüber zu kommen mit der fürchterlichen Drohung, wenn sie sich weigere, würde ihr Enkel überhaupt nicht getauft.

 

„Das kannst du doch nicht vor deinem Herrgott verantworten, dass das arme Würmchen ein Heidenkind bleibt“, redete die Base zu, „und wenn der Konrädel für alles sorgt, und das Billet schickt, da gehörst du doch meiner Seele geprügelt, wenn du nicht hinüber gingst“. „Ja, aber die weite Reise“.

 

„Ach was; du brauchst das Schiff doch nicht zu fahren, das Schiff fährt doch dich. In Hamburg steigst du ein, kuschelst dich in einen Schaukelstuhl und da drin bleibst du hocken bis auf New York. Und pass auf, da steht der Konrädel mit einem großen Blumenstrauß und mit einem Auto, vielleicht ist auch die Missmaud dabei und holt dich ab“.

 

„Ja, du hast recht, guck Lene, es ist mir nicht nur wegen dem Kind, es ist mir auch wegen meinem Konrad selbst; er hat doch geschrieben, dass er sich so freut, wenn er mal wieder richtig Deutsch schwätzen und wenn er pfälzisch babbeln kann. Ein bisschen Heimweh hat er halt doch. Also, fertig meine Küche, ich gehe auf Amerika“.

 

Jetzt gab es ein fröhliches Schaffen in dem kleinen Häuschen, und nachdem das Nähmamsellchen eine Woche lang alles „auffrisiert“ hatte, nachdem eine ganze kleine Ausstattung, Tragkissen, Wickelbinden, wollene Jäckchen, ja, sogar eine deutsche Wärmflasche eingepackt waren, reiste die Mutter nach Hamburg. Dort wurde sie im Auftrag ihres Sohnes erwartet und zum Schiff geleitet.

 

Als die ersten überwältigenden Eindrücke, wo sie tatsächlich nur Mund und Nase aufsperrte, verarbeitet waren, fing die alte Frau an – wie das zu Haus auch ihre Gewohnheit war – mit sich selbst zu sprechen. „Nein, nein“, sagte sie kopfschüttelnd, „wo hätte ich gedacht, dass das Meer so viel Wasser hat. Nichts als Wasser und Himmel und Himmel und Wasser.

 

Und auf dem Wasser, das wo doch keine Balken hat, und auf dem Schiff, das wo weiter nichts ist als eine erbärmliche Nussschale, da machen die Leute so einen Staat und so einen Brulljes (Staat machen, Aufwand treiben, angeben), und die Musik spielt und sie tanzen, gerade, wie wenn sie festen Boden unter den Füßen hätten.

 

Und wenn sie all die guten Sachen, für die wo es gar keine Wörter gibt, gegessen und getrunken haben, dann gehen sie hin und spauzen alles wieder ins Meer. Na ja, die Fische wollen auch leben. Aber mein Lebtag esse ich keinen Hering mehr. Wenn da nicht einmal unser Herrgott mit Pech und Schwefel hinein fährt, wie sellemals auf Sodom und Gomorrha, dann soll es mich wundern.

 

Da täte es halt heißen, mitgefangen, mitgehangen und ich armes unschuldiges Tier müsste auch dran glauben“.

 

Aber als der liebe Herrgott nicht mit Pech und Schwefel hineinfuhr, das Wetter immer herrlicher, das Wohlbehagen immer größer wurde, söhnte sich unsere Reisende mit all dem Brulljes aus. Sie hatte sogar ihre helle Freude, mit ihrem urwüchsigen Pfälzer Naturell alles zu beobachten, machte heimlich ihre Glossen, und als es hieß, dass das Schiff in zwei Tagen landen würde, tat es ihr ordentlich leid.

 

In seinem behaglichen Heim in der Nähe von Cincinatti saß ein stattlicher junger Mann, dem das Glück nur so aus den Augen leuchtete, an der Seite einer blühenden, bildhübschen Frau, die soeben ihr Kind genährt hatte.

 

Behutsam gab sie es ihm auf den Arm und trotz aller Ermahnungen von Seiten der jungen Mutter fing er an, mit dem Baby regelrecht im Zimmer herum zu tanzen. Granny is coming, my dear little boy, Granny is coming, my darling, schwatzte er dem Büble vor, bis die Wärterin hereinkam und es vorsichtig hinaustrug.

 

Dann nahmen die jungen Leute zärtlich Abschied von einander; die junge Frau geleitete Konrad bis zur Türe und er ging zur Bahn, um nach New York zu fahren, und die Mutter abzuholen.

 

In seiner Ungeduld war er natürlich viel zu früh gekommen. Er besorgte verschiedene Einkäufe, und als er dann – um sich die Zeit zu vertreiben – in den Hafenanlagen spazieren ging, flogen seine Gedanken in die alte Heimat, in das kleine Häusel in der Herdgasse in Speyer. Der Domgarten, der Ölberg, das Heidentürmchen, der Retscher, das Altpörtel, alles stand leibhaftig vor seinen Augen.

 

Endlich, endlich lief das Schiff ein. Geraume Zeit dauerte es noch, bis er die Mutter erblickte, wie sie, wohl gealtert und gebleicht, aber immer noch stolz und aufrecht, in Capottchen (Hütchen) und Mantille (Schleiertuch) daher kam. Sobald sie in erreichbarer Nähe war, stürzte er auf sie zu, streckte ihr beide Hände entgegen und rief jubelnd: „Mutter – meine liebe, gute Mutter – o kriege die Kränk, o kriege die Kränk, da bist du ja“.

 

Lina Sommer