Ein kleiner Dulder

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

„Mutti“, rief mein kleines Söhnchen ganz atemlos, als es an einem kalten Februartage die Treppe heraufsprang, „Mutti, komm doch rasch mal auf die Straße, da steht ein armer, kleiner Junge, der wird von den Großen so gequält, dass er sich nicht helfen kann".

 

Auch mir das klägliche Geschrei einer Kinderstimme schon aufgefallen, und als ich an die Haustür trat, sah ich einen kleinen, zerlumpten Knaben, von einer Schar größerer Jungen umgeben, der ängstlich rief: „lasst mich doch fort, lasst mich doch heim, sonst bekomme ich fürchterliche Haue“.

 

„Erst singst du uns noch was, sonst leeren wir deinen Kohleneimer aus“, drohte die rohe Schar, und von einem kalten Beinchen auf das andere hüpfend, sang das arme, frierende Kind – seinen halb gefüllten Kohleneimer ängstlich im Auge behaltend.

 

Ich trat nun dazwischen, holte den Kleinen heraus, der mir, sein Eimerchen fest im Arm haltend, in die warme Stube folgte, wo er gierig das ihm vorgesetzte Essen verschlang. „Musst du gleich heim“, sagte ich, „so gehe und komme morgen wieder und erzähle mir, wo du wohnst“.

 

„Ja, das ist so: wenn ich meinen Kohleneimer ganz voll habe, dann darf ich kommen, wann ich will, dann haut die Mutter mich nicht; aber wenn ich ihn nur halb voll habe, muss ich sehr früh da sein, sonst haut mich die Mutter fürchterlich, – und ich habe heute fast nichts gefunden“, fügte er weinend hinzu.

 

„Ich will dir dein Eimerchen nachher füllen, dann kannst du noch ein wenig hier bleiben und dich wärmen, ziehe aber erst mal deinen Handschuh aus“, denn es war mir aufgefallen, dass er gerade nur an der linken Hand einen solchen trug. „Ich möchte ihn lieber anbehalten“, meinte er schüchtern. –

 

„Ja, aber warum denn, Kind“. „Weil man es sonst sieht“. „Was sieht man sonst?“ „Wie mich die Mutter gestern geschlagen hat mit dem heißen Schürhaken, weil ich keine Kohlen heimgebracht habe“, kam es zögernd heraus.

 

Und als er nun den zerlumpten, von Schmutz starrenden Handschuh abzog, sah man auf der mageren, welken Hand einen offenen, blutigen Streifen. Wie leid tat mir das arme Kind, das sein Elend auch noch zu verbergen suchte. Ich wusch und verband die Wunde und zog ihm den Handschuh wieder an.

 

„Wie alt bist du denn und in welche Klasse gehst du?“ „Zwölf Jahre bin ich alt und sitze in der dritten Klasse und ich bin schon zweimal sitzen geblieben“, fügte er leise, wie entschuldigend, hinzu.

 

„Lernst du denn nicht zu Hause?“ „Oh nein, nur immer auf dem Schulweg; zu Hause habe ich keine Zeit; zuerst muss ich Kohlen suchen und dann die Kinder verwahren, und dann schickt mich die Mutter immer gleich zu Bett“. –

„Hast du denn keinen Vater mehr?“

 

„Oh ja, ich habe zwei Väter, der eine ist in Straßburg und der andere ist hier, und wenn mein Vater in Straßburg kein Geld für mich schickt, dann haut mein Vater hier mich so arg – und ich kann doch nichts dafür“, schluchzte er laut. „Armes Kind“; – jetzt wurde mir sein ganzes Elend klar.

 

„Wie heißt du denn, mein Junge?“ „Ach, ich habe so viele Namen, Vater sagt immer Lump, Mutter Nichtsnutz, der Herr Lehrer Fritz und die Kinder auf der Straße sagen Tanzbär zu mir, weil ich so schön hopsen und tanzen kann, – wenn ich ihnen mal was vorsinge und tanze, dann schenken sie mir als was.

 

Aber wir haben sieben Kinder“, fügte er stolz hinzu, „die Älteste ist die Anna, die gibt mir oft von ihrem Butterbrot, wenn ich so arg Hunger habe, und der Kleinste ist der Peter, den haben wir erst vor vier Wochen gekriegt“.

 

„Was hast du den zu Mittag gegessen?“ – „Vier Kartoffeln mit Salz.“ – „Und nach der Schule, um vier Uhr?“ – „Gar nichts, die Mutter hat den anderen ein Schmalzbrot gestrichen, aber ich bekomme meines erst, wenn ich Kohlen heimbringe.“ – „Wo holst du denn die Kohlen jeden Tag?“ – „Ei, die suche ich auf der Straße und am Hafen, wenn die Schiffe ausgeladen werden, aber heute war kein Schiff da.“

 

Ein glückliches Lächeln huschte über das schmale, blasse Gesicht des Kindes, als es seinen gefüllten Eimer bekam, und treuherzig fragte der arme Schelm: „soll ich Ihnen jetzt was vorsingen oder tanzen?“ – „Nein, gehe nur schnell nach Hause, morgen kommst du wieder und alle Tage und isst dich bei uns satt.“

 

Traurig sah ich dem armen Bürschlein nach, wie es mit seinen mageren Beinchen vorwärts strebte, unter jeder Laterne Halt machend. Seinem schwachen, elenden Körperchen und seinem einfältigen Verstand nach konnte man ihn höchstens für acht Jahre halten.

 

Am nächsten Tage kam er wieder und rief vergnügt: „ich habe meinen Kohleneimer schon voll, der Kohlenhändler vorne an der Ecke hat mir die Kohlen geschenkt. Oh je, wie schön, jetzt kriege ich heute auch wieder keine Schläge!“ Als er sich tüchtig satt gegessen hatte, meinte er: „wenn es nur die Mutter nicht merkt, sonst muss ich die Anderen auch mitbringen.“ – Und richtig, am folgenden Tage kamen sie zu zweien, den nächstfolgenden zu dreien, und als ich energisch Protest einlegte und sagte, er solle allein kommen, da blieb der arme Junge ganz weg.

 

Acht Tage später kam er abends und bat: „wollen Sie mir nicht einen Griffel schenken, meiner ist kaputt und die Mutter gibt mir kein Geld für einen neuen.“ – Warum bist du denn die ganze Woche nicht gekommen, Fritzchen, bist du krank?“ fragte ich erschrocken über sein jammervolles Aussehen.

 

„Ich darf nicht mehr kommen, die Mutter leidet es nicht, weil Sie die anderen fortgeschickt haben, – und daneben in der Seite tut mir es so arg weh, ich kann kaum gehen,“ klagte er. – Am nächsten Tage ging ich in die Wohnung, um zu sehen, ob nicht gründliche Abhilfe zu schaffen sei.

 

In einer engen, schmutzigen Küche krochen und saßen sieben Kinder, – der Herd glühte, – es war eine Luft und eine Hitze zum Ersticken. Fritz saß auf dem Boden und hatte das jüngste Kind auf dem Schoß und streichelte und beruhigte es zärtlich.

 

Die Anna, ein blasses, hübsches Mädchen von elf Jahren, schälte Kartoffeln und beaufsichtigte die anderen. „Die Mutter ist nicht daheim“, erklärte Fritz, aber wir haben noch eine andere Stube“; damit führte er mich in die Kammer nebenan.

 

„Hier schläft der Vater und die Mutter“, sagte er, auf ein großes Bett deutend, und in dem anderen Bett schlafen drei Kinder, und in dem an der Wand schlafen auch drei Kinder, und der kleine Peter schläft im Wagen.“ – Nun möchte ich aber auch dein Bettchen sehen.“

 

Oh, ich habe es gut, ich schlafe draußen in der Küche, im Warmen“, und dabei zeigte er mir eine mit Stroh gefüllte Kiste, die in der Küche stand und oben am Kopfende mit Lumpen belegt war. – „Womit deckst du dich denn zu?“ „Oh, mit gar nichts, ich behalte immer die Kleider an.“

 

Da ging die Türe auf, und eine robuste Frau mit rohem, aufgedunsenem Gesicht kam herein. – „Aha, Sie sind gewiss die Madame, die dem Nichtsnutz da das Essen geben will“, redete sie mich an. „Aber ich sage Ihnen, es wird nichts daraus, – der Lump, der verdient es nicht, – Tag und Nacht habe ich wegen dem Bengel Streit mit meinem Mann.“

 

„Da ist es doch das Beste, wir bringen ihn ins Waisenhaus“, warf ich ein, „dann ist er aus dem Wege.“ – „So, so, darauf geht es hinaus“, höhnte sie, „das sollte noch fehlen. Glauben Sie denn, wir hätten den Schlingel für umsonst durchgefüttert die ganze Zeit her? Das könnte meinem Mann passen. In zwei Jahren kommt er aus der Schule, da muss er zu den Maurern, Kalk und Steine tragen, da verdient er eine Mark den Tag, das können wir schon brauchen.

 

Um dem armen Jungen sein hartes Los nicht noch unerträglicher zu machen, durfte ich einstweilen nichts mehr für ihn tun, nur mit der Frau des Schuldieners traf ich ein Abkommen, dass sie ihn täglich mit Milch und Brot versorgte.

 

Einige Wochen später erschien die Anna und rief weinend: „unser Fritz ist so arg krank“, und ehe ich noch weiter fragen konnte, war sie schon wieder weg. Wir hatten selbst einen Patienten, so dass ich den Hausarzt bat, sich nach dem verlassenen Knaben umzusehen. Als er wieder kam, erfuhr ich, dass das Kind eine sehr schmerzhafte Hüftgelenkentzündung habe, und dass seine sofortige Überführung ins Hospital angeordnet sei.

 

Als ich ihn am nächsten Tage dort besuchte, und er trotz seiner großen Schmerzen so ruhig und geduldig in seinem sauberen Bettchen lag, sah ich ihm an, wie gut ihm die neue Umgebung tat, und auf meine Frage: „Fritzel, wie geht es dir denn?“ antwortete er: „oh je, hier ist so schön und so still.“

 

Die Schwester sagte mir, dass das Kind wohl nicht mehr aufkomme, es sei so schwach, scheine sich immer vor etwas zu fürchten, und sein ganzes Körperchen weise Spuren der unmenschlichsten Behandlung auf. So oft es erlaubt war, habe ich den kleinen Dulder besucht. „Jetzt wirst du bald wieder gesund“, tröstete ich ihn eines Tages, „da kannst du jeden Tag in den Wald gehen“.

 

„Oh, nein, nein“, unterbrach er mich ängstlich, – ich will gar nicht mehr gesund werden, ich will immer hier bleiben; sonst muss ich heim und dann bekomme ich wieder so viele Schläge.“ – „Nein, du brauchst nicht mehr heim, mein liebes Kind. Wenn du gesund bist, dann kommst du zu mir und hilfst mir in dem großen Garten, willst du?“

 

„Oh, ja, aber wenn die Mutter kommt und mich holt, und ich muss im Winter wieder Kohlen suchen und ich finde keine?“ – „Nein, die holt dich nicht mehr, sei ganz ruhig, der sagen wir gar nichts davon.“ – Oh je, dann ist es gut“, lächelte er, „das erzähle ich aber der Anna, da kann sie mich mal besuchen – die verrät es nicht“ – –.

 

Als ich wieder zu ihm ging, stand sein Bettchen nicht mehr in der langen, traurigen Reihe. Hinter einer spanischen Wand lag er. „Es geht zu Ende mit ihm“, sagte die Schwester, die still bei ihm saß, „darum habe ich ihn drüben weggeholt“. Ich rief ihn an, er erwachte, und ein Sonnenstrählchen irrte über sein müdes, welkes Gesichtchen, als er sagte: „die Anna hat mich gestern besucht.“

 

Gleich darauf lag er, trotz allen Anrufens, wieder ganz teilnahmslos da. Drei Tage später haben wir ihn beerdigt. Von seinen Angehörigen ließ sich keines sehen. Im letzten Augenblick kam die Anna mit einem Sträußchen auf den Friedhof und weinte heiße Tränen.

 

Armes, kleines Büble, nun brauchst du dich nicht mehr zu fürchten. Du hast den harten Kampf ausgekämpft, mit dem du jeden Morgen aufs Neue für dein freudloses, elendes Dasein gerungen hast, – nun bist du gut versorgt, da, „wo es so schön und so still“ ist.

 

Lina Sommer