Die Speisung der 12 Mann

aus: Hausapothek (1933)

in Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten

 

(Dieser Text ist in pfälzer Mundart zu lesen, wenn er hochdeutsch gelesen
wird, ergibt sich an vielen Stellen ein schlechtes oder sogar falsches Deutsch)

 

 

Im August 1870 sind die ersten verwundeten Soldaten von Weißenburg und Wörth nach Speyer in das Lazarett gekommen; wenn sie als wieder so weit hergestellt waren, dass sie haben ausgehen dürfen, sind sie von den Speyerer Familien zum Mittagessen eingeladen worden. Meistens so um zehn herum, wenn sie frisch verbunden waren, sind sie als die Hauptstraße herunter gekommen, die armen Menschen, für am Rhein spazieren zu gehen, und ich sehe sie heute noch vor mir, obwohl ich selbigen Mals noch eine kleine Krott und ein ABC-Schützlein war. Mancher hat den Arm in einer Binde gehabt, ein anderer einen verbundenen Kopf, ein Dritter hat sich an Krücken fortgeschleppt, aber jedenfalls waren diese alle noch gut daran gegen denen, die überhaupt nicht heraus gekonnt haben, die stillen Dulder – vor lauter Schmerzen und Wunden und Elend.

 

Um zehn war als selbigen Mals unsere Schule aus, und da waren wir Geschwister von unserer guten Mama und vom Großmutterchen instruiert, wir sollen auf einen Verwundeten zugehen und sagen: „Guten Tag, Herr Verwundeter“ (meistens haben wir als vor lauter Eifer „Herr Verwunderter“ gesagt), „einen schönen Gruß von unseren Eltern, und Sie möchten doch so gut sein und heute Mittag um zwölf zu uns zum Essen kommen.“

 

Wenn der Betreffende als heute schon eingeladen war, da haben wir als gesagt: „Aber gelt Sie, morgen oder übermorgen sind Sie so gut und machen uns die Pläsier.“ Dann haben wir seelenvergnügt die Zettelchen mit unserer Adresse abgegeben und sind zum nächsten „Herrn Verwundeten“ gelaufen; vier Mann haben wir jeden Tag einladen dürfen, und die sind dann wie liebe, alte Bekannte begrüßt und bewirtet worden, und keiner ist fort, ohne dass ihm die Mama die Rocksäcke mit Esswaren und die Westentäschlein mit Zigarren gefüllt hat, – „denn“ – hat unser Papa als gesagt, – „sie haben ihr Leben auch für uns in die Schanze geschlagen.“ Franzosen und Turkos aber haben wir natürlich keine eingeladen; im Gegenteil, hinter diesen sind wir als hergeschwänzelt, haben ihnen eine lange Nase gemacht und die Zungen herausgestreckt.

 

An einem schönen Tag, wir waren gerade mit sieben Verwundeten am Tisch gesessen (drei hat der Papa selbst aus dem Lazarett mitgebracht, um sie ein bisschen aufzuheitern, die armen Menschen), kommt unsere Tante Müller herein; wir haben sie alle nicht leiden können, denn sie war eine Kribbelbisserin und ein Geizkragen erster Klasse und hat an allem und jedem herumkritisiert. Und dann hat sie so eine alte, eklige Katze gehabt, die sollten wir immer streicheln und ihr den Hof machen, und das hat uns halt gar nicht gepasst. So geizig war die Tante, dass sie nicht einmal etwas für die Verwundeten übrig gehabt hat, nicht einmal ein Stückchen Leinwand, für Charpie zu zupfen, hat sie uns spendiert, trotzdem sie eine reiche Witt-Frau war ohne Kinder. Wie die Verwundeten sich verabschiedet gehabt haben, sagt sie zu unserem Papa so spitz und kurz: „Du, Jakob – bei euch geht es ja hoch her, ich weiß gar nicht, wie du mir vorkommst, Jakob. Wie kannst du dir denn die vielen Soldaten auf den Hals laden. Ist es nicht genug, dass du dich draußen im Lazarett nützlich machst und dein Geschäft vernegligierst. Gestern Abend, zehn Minuten vor sieben, ist dein Personal schon auf dem Büro fort, – jawohl, nur kein Widerpart, – ich habe sie gesehen mit meinen leibhaftigen Augen. Das hast du von deiner Gutmütigkeit. Ich kann dich nicht begreifen, weißt du. Komme mir nur nie mehr und sage etwas von Kapital brauchen, und vom Geschäft vergrößern, nichts vertraue ich dir mehr an.“

 

Das hat uns Kinder natürlich arg gekröpft, wir haben Köpfe gekriegt, so rot wie gesottene Krebse. Kein Wunder – erstens waren wir gekränkt in unserem guten Papa, weil der herunterkapitelt worden ist, zweitens in unserem heiligsten Gefühl, im Patriotismus, und so viel ist bei mir festgestanden: „Warte nur, Tante Müller, – du kriegst schon noch dein Fett.“

 

Wenn man sich den Kopf zerbricht für eine Guttat zu tun, fällt einem gewiss etwas ein, warum nicht erst recht, wenn man simuliert, für einen Schabernack zu spielen.

 

Am nächsten Morgen habe ich mir zuallererst eine Tafel Schokolade aus dem Pfeiler-Kommödchen gestrenzt und habe mir vorgenommen, am Abend, beim Schlafengehen, wollte ich die Mama und den lieben Gott recht um Verzeihung bitten, – denn weil es schon stark auf acht Uhr zugegangen ist, habe ich gerade keine Zeit mehr dazu gehabt. Mit dieser Schokoladentafel, – es war so eine rechte, feste von Suchard, – habe ich dann in der Schule Staat gemacht, und da ist, – wie meine Absicht war, – eine um die andere von meinen Kameradinnen gekommen und hat gebettelt: „Du, Liebe, gib mir auch ein Stückelchen.“ Zu denen, wo mir nicht zuverlässig und diskret genug waren, habe ich gesagt: „Kannst lange warten“, und denen, wo ich Vertrauen gehabt hat, habe ich ein Stückelchen abgebissen und gesagt: „Tust mir aber auch einen Gefallen dafür – – weißt du, es ist immer eine Ehre die andere wert.“

 

Wie sie es dann auf ‚Ehre und Seligkeit‘ versprochen haben, haben sie ihr Stückchen Schokolade als ‚Anzahlung auf Abzahlung‘ gekriegt, und dann habe ich ihnen die Hausnummer und den Namen von der Tante Müller in der Hauptstraße angegeben und habe sie instruiert: „Also, wenn die Schule aus ist, dann geht ihr die Hauptstraße hinunter, jede auf einen ‚Herrn Verwundeten‘ zu, und sagt ihm, er soll am Samstag zu dieser Dame um zwölf Uhr zum Mittagessen kommen.“ Vier Mädchen habe ich so ausgeschickt, – auf zwölf Uhr, – vier Einladungen auf halb eins hat meine Schwester besorgt, die auch Feuer und Flamme für das Komplott gewesen ist, – und vier auf ein Uhr habe ich selbst an den Mann gebracht. Samstags habe ich extra genommen – weil da als nicht viele Verwundete eingeladen worden sind, und zweitens, weil da die Tante Müller immer ihre Böden hat frisch wichsen und ölen lassen, – und ich habe sie doch so recht ärgern wollen.

 

Die Einladungen sind also besorgt worden, und ich muss zu meiner Ehre sagen, dass ich von dieser gestrenzten Schokoladentafel auch nicht ein Krümelchen selbst gegessen, sondern nur zu wohltätigen Zwecken – zur Belohnung – verteilt habe.

 

Am Samstag Mittag bin ich in meiner Ungeduld schon um zwei Uhr auf der Gasse gestanden und habe es nicht erwarten können, bis die Tante Müller kommt. Dass sie kommen täte, für sich auszusprechen, habe ich als sicher angenommen.

 

Richtig, so gegen vier kommt sie im fliegenden Mantillchen und mit offenen Kapott-Hut-Bändel die Gasse herunter gerannt, durch das Hoftor und die Treppe hinauf, und wie die Kugel aus der Flinte hinein in die Stube, – ich hinten nach und das Ohr an das Schlüsselloch gelegt. Da hat sie getobt und geweint, sie wäre einer ‚Mystifikation‘ zum Opfer gefallen, und ich habe schon Angst gehabt, mein Anschlag wäre am Ende doch nicht geglückt. Dann hat sie aber angefangen, haarklein zu erzählen, und ich hätte am liebsten laut hinaus gejuchzt vor lauter Vergnügen.

 

Um zwölf waren also die ersten vier Mann richtig angerückt; da hat die Tante Müller mitsamt ihrer ekligen Katze gute Miene zum bösen Spiel gemacht, hat von der Babette in der Küche den Tisch decken, und das Essen aus dem Wirtshaus holen lassen.

 

Um halb eins hat es wieder geschellt; es wären wieder vier Mann draußen gestanden, – was hätte sie machen wollen – fortschicken hätte sie sie doch nicht gut können, und hätte sie in das Wohnzimmer gesetzt; – aber um eins, wie dann noch einmal vier Mann gekommen wären, da hätte sie fast der Schlag gerührt, und sie wäre gewiss in Ohnmacht gefallen, wenn ihr die Babette nicht geschwind auf die Zehen getreten wäre und ihr nicht ein Fläschchen Kölnisch Wasser unter die Nase gehalten hätte.

 

Meine Pläsier ist nicht zu beschreiben.

 

„Aber ich lasse mir so eine Mystifikation doch nicht gefallen, ich muss herauskriegen, wer mir diesen Ducken gespielt hat – gleich gehe ich auf das Rathaus und auf die Polizei“, hat sie gedroht.

 

„Liebe Tante“, hat die Mama zu ihr gesagt, „tue doch das nicht. Weißt du, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Freue dich lieber, dass du an diesen armen Menschen ein gutes Werk getan hast.“

 

„So, sollen das auch noch Anzüglichkeiten sein, meinst du, ich gäbe nicht genug das ganze Jahr in die Armenkasse. Weißt du, was mich der Spaß gekostet hat – acht Mark, – und das ohne den Wein. Von jetzt an schließe ich das Haus zu, mir kommt niemand mehr über die Schwelle.“

 

Abends habe ich dann die Mama und den lieben Gott herzlich um Verzeihung gebittet (gebeten), und in Anbetracht dessen, dass die Tante Müller ja gehörig ‚ihr Fett gekriegt‘ hat, habe ich mir gelobt, nie mehr eine Schokoladentafel zu strenzen – oder zu lauschen, – oder einen bösen Streich zu spielen.

 

Nur eines hat mich verdrossen und verdrießt mich heute noch, dass ich dieser Speisung der zwölf Mann nicht habe zugucken können.

 

Lina Sommer

 

Originalschreibweise:

 

folgt