Die Liebe höret nimmer auf

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

Golden flutete die Mittagssonne durch die offene Türe des kleinen Dorfkirchleins, von dessen Orgel ein feierlicher Choral hinausklang in all die Frühlingspracht. Mit frischem Grün und duftenden Blumen war der Gang bestreut, durch den sich beim Klang der Glocke ein Hochzeitszug zum festlich geschmückten Altar bewegte. Das ganze Dorf war versammelt, galt es doch, heute den Ehrentag der „Schäfer-Anna“ zu feiern, des hübschen, fröhlichen Mädchens, das überall beliebt war, dem jedes nur das Beste wünschte.

 

Mit sechzehn Jahren war sie fortgegangen in die Großstadt, eine Familie, die im Dorfe zur Sommerfrische wohnte, hatte sie in Dienst mitgenommen, den sie viele Jahre treu und gewissenhaft versehen hatte. Alle Jahre einmal, zu Pfingsten, war sie gekommen, die Eltern zu besuchen; wie freuten sich diese, dass ihre Tochter in der Großstadt weder leichtsinnig noch hochmütig geworden, sondern das einfache, schlichte Mädchen geblieben war.

 

Ihr Vater, der „Schäferhannes“, wie er genannt wurde, war Invalide; in der Schlacht bei Sedan, worin er sich heldenmütig auszeichnete, hatte ihm eine Kugel den Arm zerschmettert, und als er dann mit dem Eisernen Kreuz zurückkam und das Schmiedehandwerk, das er erlernt hatte, nicht weiter betreiben konnte, wurde er von der Gemeinde als Schäfer angestellt.

 

Trotz seines körperlichen Gebrechens war ihm seine Marie, mit der er sich vor dem Auszug in den Krieg verlobt hatte, treu geblieben; die beiden schlichten, braven Leute heirateten sich, und ganz am Ende des Dorfes, versteckt in einem kleinen Gärtchen, umgeben von Wald und Wiese, lag ihr schmuckes, nettes Häuschen. Unter lauter Blumen, Sonnenschein und Vogelsang war die kleine Anna aufgewachsen, ein Abglanz ihrer glücklichen, sorglosen Jugendzeit lag auf ihrem guten, hübschen Gesicht.

 

Als sie als Braut heimgekommen war und ihren Eltern den Bräutigam vorstellte, erschrak die Mutter und sagte besorgt: „Anna, wärest du doch zu Hause geblieben und hättest dir einen Burschen aus dem Dorfe genommen, den man kennt, und der zu dir passt. Das ist ja eine ganz andere Art, mag sein, dass sie in der Stadt so sind, aber ich kann kein Vertrauen zu ihm haben.“

 

„Lass gut sein, Mutter“, beruhigte sie Anna, indem ihr das Bild ihres Verlobten mit seinen schwarzen, blitzenden Augen, seiner gebräunten Hautfarbe und dem kecken, verwegenen Gesichtsausdruck vor Augen stand, „er ist wohl anders, als wir hier gewohnt sind, aber ich habe ihn so lieb, und wenn er ein Räuber wäre, ich nähme ihn, und traute es mir zu, ihn auf den richtigen Weg zu bringen.“ „Du verstehst, was ich meine“, fuhr die Mutter fort, „wenn es nur gut abläuft und du nicht ins Elend kommst.“

 

„Warum soll’s nicht gut werden, Mutter, bedenke nur seine traurige Jugendzeit, als Waise bei fremden Leuten in der Großstadt aufgewachsen, ohne Eltern, ohne Sonne und Wald, das ist hart. Sollst mal sehen, wenn wir verheiratet sind, wie schön und gut will ich’s ihm machen, dass er sich recht glücklich fühlt.“ – Die Hochzeitsglocke war verstummt, der ehrwürdige Pfarrer, der die „Schäfer-Anna“ schon getauft und konfirmiert hatte, hielt mit bewegten Worten die Traurede über den Text: „die Liebe höret nimmer auf“.

 

Er schilderte das ehrliche, brave Leben der Brauteltern, die Achtung und das Ansehen, deren sie sich allgemein erfreuten, die Tapferkeit, durch die sich der Vater das Eiserne Kreuz erworben hatte, und legte es dann dem jungen Mann, der mit gelangweiltem Gesicht und verschränkten Armen vor dem Altar stand, ans Herz, sein junges Weib auch in der Fremde hoch zu halten, denn von der Braut wisse er gewiss: „die Liebe höret nimmer auf.“

 

Verstohlen schielten die Mädchen nach dem jungen, hübschen Städter, bewundernd blickten die Burschen auf die hübsche, blonde Braut, die so demütig dastand, und die alten Leute wischten sich wohl eine Träne aus dem Auge und flüsterten: „wenn er sie nur in Ehren hält, es ist schade um das liebe, brave Mädchen.“ – Als der Zug aus der Kirche trat, kamen auch die Honoratioren herbei, die Frau Lehrer, Frau Bürgermeister, Frau Apotheker, Frau Pfarrer, jede gab der jungen Frau noch einmal die Hand und wünschte ihr Glück auf den Weg.

 

„Und nun geh mit Gott, Anna“, sagte der Vater bewegt, als er nach dem einfachen Hochzeitsmahl von seinem Kinde Abschied nahm, „die Mutter und ich werden täglich an dich denken. Und kommt recht bald mal zusammen wieder“, wandte er sich an seinen Schwiegersohn – „und mach‘ unserer Anna das Leben so gut – wie sie es verdient “. – – – – –

 

An eine Laterne gelehnt stand an einem kalten, stürmischen Winterabend ein bleiches, abgehärmtes Weib und blickte mit scheuen, ängstlichen Augen die Straße hinab. An der Hand hatte es einen frierenden Knaben, dem ein großer, alter Filzhut den Kopf bedeckte, so dass fast nichts vom Gesichtchen zu sehen war. „Oh, Mutter, mich friert, kommt der Vater noch nicht bald?“ klagte er, sich fester an die Frau schmiegend.

 

„Gleich, Hansel“, tröstete sie, „es muss im Augenblick sechs Uhr sein, und wenn wir dann heimkommen, mache ich dir eine warme Suppe und brate dir einen Apfel.“ Bald darauf wurde das Fabriktor geöffnet, in großen Scharen strömten die Arbeiter heraus. „Da kommt der Vater“, rief der Kleine freudig, doch als dieser den Jungen und die Frau erblickte, drehte er sich um und ging nach der entgegengesetzten Richtung. Das Kind riss sich von der Mutter los, sprang ihm nach, und: „Vater, Vater“, rief es kläglich, indem es ihm sein schmales Händchen hinstreckte.

 

„Mach‘, dass du fortkommst, Bengel, sonst schlag‘ ich zu, das fehlt noch, dass ihr mir auf der Straße auflauert“, schrie der Mann, und traurig lief Hansel zurück und wimmerte: „er gibt uns nichts, Mutter, „und ich hab‘ doch solchen Hunger“. Die hellen Tränen standen in den Augen der Frau, sie hatte kein Brot, keine Feuerung mehr im Hause und hatte gehofft, von dem Lohne ihres Mannes wenigstens etwas zu erhalten, ehe er alles vertrank und verspielte.

 

„Ich hätte mir’s denken können“, flüstert sie vor sich hin, „ich hätt’s am End‘ nicht tun sollen, jetzt bleibt mir heute Abend kein anderer Ausweg als den Trauring zu verkaufen, bis ich den weiten Weg nach Hause komme, ist’s zu allem andern zu spät“.

 

Scheu trat sie in den Laden eines Althändlers, zog den Ring vom Finger und bat ihn, den Goldwert zu bezahlen. „Eine Mark, mehr kann ich nicht geben“, bekam sie zur Antwort. „Würden Sie ihn nicht liegen lassen bis Montag“, fragte sie ihn bittend, „dann komme ich wieder, ihn einzulösen“. „Schön das“, sprach der Händler lachend, „aber die Vorsätze, die kenne ich schon“.

 

Schweigend eilten nun Mutter und Kind ihrer armen kleinen Wohnung zu, und als Hansel sich satt gegessen hatte und zu Bette gebracht war, machte sich die Frau daran, ihre Habseligkeiten zu ordnen. Um des Kindes willen muss ich ein Ende machen, stöhnte sie, vielleicht ist’s auch besser für ihn, vielleicht kommt er doch noch zur Besinnung.

 

Wie waren sie erst so glücklich gewesen, als ihr Mann noch die geachtete und einträgliche Stellung als Werkführer bekleidete – wie rasch war es anders geworden, wie bald hatte er sich das Vertrauen seiner Prinzipale verscherzt, als er in leichtsinnige Gesellschaft geriet und schließlich einer der ärgsten Umstürzler wurde.

 

Als er dann keine Beschäftigung mehr bekam, die ihm zusagte, wurde er immer erbitterter und auch heute kam er erst lange nach Mitternacht betrunken nach Hause, lärmte und schlug sinnlos um sich. Seine Frau machte sich selbst bittere Vorwürfe, dass sie ihn gar zu sehr verwöhnt habe, so dass er es ganz natürlich fand, dass sie nicht nur den Unterhalt für sich erwarb, sondern auch noch für seine Bedürfnisse aufkam.

 

Aber jetzt nach der schweren Krankheit war sie am Ende ihrer Kraft und ihres Mutes; wenn sie so weiter arbeitete, würde sie in ganz kurzer Zeit zugrunde gerichtet sein, hatte ihr der Arzt gesagt, und was sollte dann aus ihrem Bübchen, ihrem Hansel, werden? Fort, nur fort, ehe sie wieder wankend würde, gelobte sie sich am Bettchen ihres Kindes. Am Morgen verkaufte sie ihr bisschen Hausrat, bezahlte, was sie schuldig war, löste ihren Trauring wieder ein und ließ des Rest des Geldes in einem Briefe an ihren Mann zurück.

 

Wie freute sich Hansel, als sie gegen Abend im Dorf ankamen, wo die Großeltern wohnten, von denen ihm die Mutter schon so viel erzählt hatte. Er konnte es gar nicht begreifen, dass die Mutter so langsam und schwer ging, dass sie von Zeit zu Zeit stehen blieb, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Wie konnte man da nur traurig sein, wo alles so schön, so weit war, wo die beschneiten Tannen glitzerten wie lauter Weihnachtsbäume.

 

Aber als nun eine liebe, alte Frau auf sie zukam, als die Mutter ihr um den Hals fiel und schluchzte: „da bin ich wieder“, da rollten auch ihm die dicken Tränen unbewusst über sein blasses, hageres Gesichtchen. „Nun lass alles gut sein, Anna“, sprach die Großmutter und nahm das Kind auf den Arm, „lass alles hinter dir, was hinter dir ist – wir haben diesen Tag kommen sehen und sind froh, dass wir ihn noch erlebt haben.

 

Wärst du doch eher umgekehrt – bist kaum noch zu erkennen. Und komm rasch hinein nach dem Vater, er sehnt sich so nach dir, er kann kaum mehr aus dem Bett. – Wie gut tut es uns, dass du wieder da bist, glaubst gar nicht, besorgen. Und der Hansel, das arme Stadtkind, der soll hier auch aufleben, – du lieber Gott, wie sieht das Büble aus.“

 

Und sie lebten alle beide auf, der kleine Hansel und seine Mutter, und Freude und Sonnenschein waren wieder eingekehrt beim alten Schäferhannes, nach all den Sorgen und der Ungewissheit um seine Tochter, so dass er beruhigt und sanft einschlief, als der Tod bei ihm anpochte.

 

„Mutterle, warum machst du alles so fein, und backst Kuchen, und warum machst du den schönen Kranz?“ fragte Hansel eines Tages. „Warum, Büble, ei, weil übermorgen Pfingsttag ist, und weil ich morgen in die Stadt fahre und Besuch mitbringe, willst du mit mir?“ „Nein, ich bleibe bei der Großmutter, bis du wieder kommst, Mutterle, aber wen bringst du denn mit zu Besuch?“

 

„Ja, Kind, das will ich dir erzählen; sieh, drinnen in der Stadt im Spital liegt ein armer, kranker Mann, der hat keinen Vater und keine Mutter und kein Haus und keinen Garten, ist immer allein, und der böse Husten plagt ihn so sehr. Wenn er jetzt aus dem Krankenhaus entlassen wird, da weiß er gar nicht, wohin, gelt, das ist doch traurig.

 

Und darum will ich ihn zu uns holen, dass er bei uns bleibt und wieder gesund wird, musst aber immer gut und lieb zu ihm sein, nicht wahr?“ „Ja, das will ich“, entgegnete das Kind eifrig, „und dann bringe ich ihm immer die Milch ans Bett, wie dem Großvater auch; aber wie heißt denn der arme Mann, wie soll ich denn zu ihm sagen?“ „Es ist der Vater, Hansel, der so krank ist und den ich holen will“.

 

„Der Vater“, wiederholte das Kind und schmiegte sich ängstlich an die Mutter, „der Vater – und wenn er dich wieder zankt und schlägt, was sagt dann die Großmutter? Hol ihn doch lieber nicht“. „Büble, das musst du alles vergessen, der Vater ist ja so gut, es waren immer nur böse Leute, die ihn geärgert haben, und da war er manchmal hart gegen uns, er hat es gar nicht so bös gemeint; sieh, das ist jetzt alles anders; nicht wahr, du versprichst mir, dass du ihn recht lieb haben willst.

 

Denke nur, wir haben hier gar keine Sorgen, der liebe Gott lässt im Garten und Feld alles wachsen, was wir brauchen, im Stall haben wir die schöne bunte Kuh und so viele Hühner, Enten und Gänse – sollen wir da den armen, kranken Vater in der Stadt verhungern lassen? – nein, das willst du gewiss nicht“. „Ja, Mutterle, ich will ihn recht lieb haben, und dann lese ich ihm auch die schönen Geschichten aus meiner Fibel vor, damit er sieht, was ich schon gelernt habe“.

 

Pfingstsonntagmorgen – ein erhabener, heiliger Gottesfriede liegt über der blühenden, jauchzenden Natur. Er spiegelt sich wider auf dem Antlitz zweier Menschen, die schweigend dem Walde entlang, dem Dorfe zustreben. Ein bleicher, hagerer Mann mit tiefem Leidenszug in dem eingefallenen Gesicht ist es, der schwer gestützt auf den Arm seiner Frau, daher wankt, und jetzt, als sie an der Lichtung angekommen sind und das Dorf im goldenen Sonnenschein vor sich liegen sehen, tiefaufatmend innehält.

 

„Lass mich einen Augenblick sitzen, Anna“, sagte er mit heiserer Stimme, „du glaubst nicht, wie schwer mir der Weg wird; kann ich es denn je wieder gut machen, was ich an dir gesündigt habe?“ „Schlage dir doch diese Gedanken ein- für allemal aus dem Kopf“, bat die Frau, „sieh, da kommt ja unser Büble gesprungen“ – und „Vater – Mutter“ rief es schon von weitem. Erschüttert nahm der kranke, schwache Mann sein Kind auf den Arm, und – „zu spät, zu spät“ – murmelte er vor sich hin.

 

Doch seine Frau ließ ihm nicht Zeit zum Grübeln und Nachdenken, sie erzählte ihm, wie sich die Großmutter freue, dass sie nun alle beisammen wären, dass sie sich in letzter Zeit manches Stückchen Land gekauft hätten, wie schön alles im Felde stünde, und so kamen sie ins Dorf und waren zu Hause, ehe der Kranke nur recht zur Besinnung kam.

 

Wie wohl tat es ihm, wie ging es ihm ans Herz, als er das hübsche, freundliche Häuschen im Garten erblickte, aus dem er sich einst die Braut geholt, – als er den Willkommkranz an der Tür, den Blumenstrauß und den Napfkuchen auf dem sauber gedeckten Tisch sah. Und als nun gar die gute, alte Frau mit herzlichem Händedruck auf ihn zukam, da faltete er unbewusst die Hände, und heiße Tränen rannen über sein gefurchtes Gesicht.

 

Still und friedlich verlebte er nun seine Tage, gepflegt und behütet von der Hand seines treusorgenden Weibes. Vergessen war alles, was sie seinethalben gelitten, sein dankbarer Blick aus den müden Augen, sein herzlicher Händedruck wogen ihr alles aus. Und als der Herbst ins Land kam, und die Blätter von den Bäumen fielen, da ist er sanft hinübergeschlummert ins Jenseits, eingedenk der Worte: „die Liebe höret nimmer auf“.

 

Lina Sommer