Die Gänseliesel

aus: Lust und Freud für kleine Leut (1916)

(hochdeutsch)

 

Es war einmal ein liebes, liebes, kleines Mädchen, das hieß Liesel, und war die Älteste von vier Geschwistern. Der Vater war schon gestorben, und da die Mutter sehr arm war, ging sie jeden Tag zum Waschen und Putzen aus, um Geld zu verdienen.

 

Neben dem kleinen armseligen Häuschen, in welchem Liesel wohnte, war ein großer Bauernhof, und die Bäuerin hatte ihre helle Freude an dem kleinen Mädchen, das immer so brav, so freundlich und gefällig war, und eines Tages sagte sie: “Hör’ mal, Kind, wenn du mir den Sommer über die Gänse hüten willst, dann schenke ich dir zum Herbst sechs blanke Taler.“ Ei, wie sich da die Liesel freute – sechs harte, blanke Taler, so viel Geld hatte sie noch nie gesehen, – wie würde das der Mutter so gut tun!

 

Gleich am nächsten Morgen trieb sie die Gänse auf die Wiese, und es sah zu niedlich aus, wie sie, barfuß, mit ihrem kurzen, roten Röckchen, einem großen Stecken in der Hand, hinter der Gänseherde hermarschierte und der lustige Wind und der goldene Sonnenschein mit ihren blonden Haaren spielten. Das Gänsehüten ist nun gerade kein angenehmes Geschäft, denn die Gänse sind all ihrer Lebtag, dumme, dumme Dinger – sehr schwer von Begriff, und wollen immer ihren eigenen Weg gehen, - so dass die kleine Liesel ihre liebe Not mit ihnen hatte.

 

Das Spielen hörte jetzt natürlich auf, und so oft die Nachbarskinder vorüberkamen, lachten sie das Barfüßele aus und gaben ihm den Spottnamen „Gänseliesel“. Die Liesel machte sich aber nichts daraus – sie hatte auch so Unterhaltung genug; sie beobachtete die schönen, bunten Schmetterlinge, wie sie von Blume zu Blume gaukelten, sah den Bienen zu, wie sie eifrig und fleißig den Blütenstaub sammelten, und hörte auf das Zwitschern und Singen der vielen Vögelein, welche an ihr vorbeiflogen.

 

So verging der Sommer, und als Liesel zum letzten Mal mit den Gänsen von der Wiese kam, zählte ihr die Bäuerin sechs neue Taler in die Hand und schenkte ihr noch extra eine frischgeschlachtete Gans. Voll Vergnügen sprang Liesel nach Hause, breitete eine rote Decke über den Tisch, stellte eine große irdene Schüssel mit dem Gänsebraten in die Mitte und legte die sechs Taler im Kreise herum. Als nun die Mutter von der Arbeit zurückkam und die Herrlichkeit sah, strich sie der Liesel mit ihrer harten abgearbeiteten Hand über die blonden Haare und sagte: „Bist du ein gutes Kind, Liesel – bleib nur so, dann haben dich alle Menschen lieb! Und morgen machst du dir auch mal einen vergnügten Tag und spielst mit den anderen Kindern.

 

Liesel ließ sich das nicht zweimal sagen, – gleich am anderen Morgen ging sie hin zu ihren Freundinnen. Doch diese wollten nun nichts mehr mit der Gänseliesel zu tun haben, und ganz betrübt lehnte sich das arme Kind an einen Baum und sah zu, wie die anderen Mädchen sich vergnügten.

 

Auf einmal kam ein altes, gebücktes Mütterchen daher, das hatte einen großen, roten Regenschirm mit messingener Krücke in der Hand, eine Hornbrille auf der Nase, ein Körbchen mit Kräutern am Arm und das ganze Gesicht voller Runzeln und Falten; es war die Waldfrau, die schon seit urdenklichen Zeiten in einem kleinen, zerfallenen Häuschen am Ende des Dorfes wohnte. Sie tat niemanden etwas zu leide – im Gegenteil, sie sammelte im Sommer allerlei Kräuter und trocknete sie, und im Winter, wenn jemand im Dorfe krank war, kamen die Bauern und holten bei ihr heilsamen Tee.

 

Wie nun die Kinder das Mütterlein daher humpeln sahen, stoben sie mit lautem Geschrei auseinander, warfen Steine nach ihr und riefen:

 

„Alte Hex, alte Hex,

scher dich rasch nach Hause, –

du verdirbst uns unser Spiel,

bleib in deiner Klause.

 

Da erhob die Alte drohend ihren Schirm, doch er entfiel ihren zitternden, kraftlosen Händen, und als sie sich krampfhaft bemühte, ihn wieder vom Boden aufzuheben, da lachten und spotteten die losen Mädchen, so laut sie nur konnten. Der Liesel tat die arme Alte leid; sie sprang hinzu und reichte ihr den Schirm hin. Die Waldfrau fasste sie an der Hand und sprach: „Weil du so gut warst, darfst du dir auch etwas wünschen, Kind – nun sage rasch, was gerne möchtest.“

 

„Ach,“ antwortete Liesel, „ich möchte so gern mal fliegen können, – hoch, hoch hinauf – über die Berge, in die weite, weite Welt hinein!“ Da machte die Waldfrau mit dem kleinen Finger ihrer linken Hand ein Zeichen in die Luft und rief:


„Quibus, quobus, Flügelein,

hokus, pokus, Huckebein –

Mond und Sterne, Sonn‘ und Wind,

schafft mir Flügelein geschwind.“

 

Ehe sich unsere Liesel nur recht versah, hatte sie schöne Flügel an und flog weit, weit fort, – über Berg und Tal, über Bäche und Flüsse! Hei, war das eine Lust, – so schön hatte sie sich das Fliegen gar nicht vorgestellt. Aber mit der Zeit wurde sie müde, und als sie nun herniederschwebte auf die Erde, fiel sie ganz leise und sacht auf einen grünen, weichen Rasen in einem wunderschönen Garten nieder. Wie sie nun um sich blickte, sah sie einen großen, kristallhellen Weiher, in dem schöne weiße Schwäne und viele Goldfischlein umherschwammen, und zwischen den Bäumen schimmerte ein herrliches, großes Schloss, dessen goldene Zinnen und Kuppeln in der Abendsonne glänzten.

 

Bald darauf hörte sie menschliche Stimmen, streifte rasch ihre Flügelein ab und verbarg sie unter ihrer Schürze; kaum war das geschehen, als eine wunderschöne Dame vor ihr stand, – es war die Frau Königin, deren kleines Töchterchen kürzlich gestorben war. Gar lieb und freundlich ging sie auf Liesel zu und sagte: „Willst du nicht bei mir bleiben und mein Töchterchen werden? Sieh, der liebe Gott hat meine kleine Prinzessin Elisabeth in den Himmel geholt, – jetzt bin ich ganz allein.“

 

Da gab Liesel der Frau Königin die Hand und wurde von ihr in das herrliche Schloss geführt, bis zu einem allerliebsten Zimmer. Da stand ein schneeweißes Himmelbettchen, mit rosaseidenen Decken und Vorhängen, – ein prachtvolles Glasschränkchen, von oben bis unten mit den herrlichsten Spielsachen gefüllt, – ein Schrank aus Elfenbein, der mit lauter seidenen, mit Gold und Silber bestickten Kleidchen gefüllt war, so dass Liesel gar nicht mehr wusste, wo sie zuerst hinschauen sollte.

 

„Jetzt will ich dir meine Kammerfrau schicken, damit sie dich umkleidet,“ sagte die gute Frau Königin, und als sie hinausging, nahm Liesel geschwind ihre Flügelein unter der Schürze hervor und verschloss sie in einem silbernen Kästchen, das auf einer niedlichen Kommode stand.

 

Gleich darauf kam die Zofe, – sie kleidete Liesel auf das prächtigste, nannte sie Prinzessin Elisabeth und führte sie dann zur Frau Königin, die sie herzlich in ihre Arme schloss.

 

Alle Leute im Schloss hatten das Kind lieb, nur die Zofe konnte es nicht recht leiden, und sann Tag und Nacht, wie sie ihm schaden könne.

 

Jeden Abend, wenn die Lichter gelöscht waren und ringsum alles still und dunkel war, stand Liesel aus ihrem Bettchen auf, holte ihre Flügelein, streifte sie über und flog hin zu dem kleinen Häuschen, in dem die arme Mutter mit den Geschwistern wohnte. Ganz zufällig merkte dies einmal die Kammerfrau, und am nächsten Morgen eilte sie spornstreichs zur Frau Königin und erzählte ihr, die kleine Prinzessin sei ein undankbares Geschöpf und wohl gar eine Zauberin, denn sie könne fliegen, und es sei wohl am besten, wenn sie gleich fortgejagt würde.

 

Da wurde die Frau Königin ganz betrübt und wollte es nicht glauben, denn sie hatte die Liesel herzlich lieb. Am Abend ließ sie ihr weißes arabisches Ross satteln und wartete mit ihrem Stallmeister im Schlossgarten. Und richtig, kaum hatte es vom Schlossturme zehn geschlagen, da öffnete sich leise ein Fenster, ein Paar Flügelein rauschten und die kleine Prinzessin flog hinaus in die stille Nacht – so rasch, dass die Frau Königin und ihr Begleiter kaum zu folgen vermochten. Endlich hielt sie an einem kleinen Häuschen an, schwebte hernieder und flog durch das geöffnete Fenster in die armselige Stube.

 

Leise, leise schlich sich die Frau Königin heran und sah, wie die Liesel einer armen Frau um den Hals fiel und die Kinder küsste, die auf ihren harten Strohsäcken schliefen. „Mutter, liebe Mutter,“ bat sie unter Tränen, „lass mich doch bei dir bleiben, – die Frau Königin ist ja so lieb zu mir und ich habe es so gut, – aber ich will alles arbeiten und trockenes Brot essen, wenn ich nur wieder bei dir bleiben kann.“

 

Im selben Augenblick öffnete sich die Türe und die Frau Königin trat herein. „Liebes Kind,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „du sollst nicht mehr fort von deinem Mütterlein, – aber auch ich mag dich nicht mehr missen. Weißt du was? Morgen früh lasse ich meinen Wagen kommen, und da fahrt ihr alle miteinander zu mir und bleibt bei mir in meinem Schloss.“

 

Und so geschah es auch; am nächsten Morgen fuhr ein prächtiger Hofwagen vor. Darauf saß ein Kutscher in seiner Livree und der kutschierte die Liesel mit ihrer Mutter und den Geschwistern hin zu dem großen Schloss, wo die Frau Königin schon auf sie wartete.

 

Die Gänseliesel mit ihrem guten braven Herzen ist dann eine richtige Prinzessin geworden, – sie lebten alle herzlich und in Freuden, und wer weiß, – wenn sie nicht gestorben sind – leben sie am Ende gar heute noch!

 

Lina Sommer