Die Depesche

aus: Hausapothek (1933)

in Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten

 

An selbigem Tag, wo mein Papa mit seiner zweiten Frau hat von der Hochzeitsreise kommen sollen, hat mein Großmutterchen eine Depesche gekriegt, die hat wörtlich gelautet: „Ankommen heute Nacht 12 Uhr 40, nicht aufbleiben, Schorsch mit Schinken Bahnhof. Jakob.“

 

Mein Großmutterchen hat das Telegramm gelesen, hat daran herum studiert und buchstabiert, – ist dann zu mir gekommen und hat gesagt: „Linchen, – da lies einmal, was wird denn das zu bedeuten haben: Schorsch mit Schinken Bahnhof, – da werde ich nicht gescheit daraus.“

 

„Ach du liebe Zeit“ habe ich gerufen, am Ende ist dem Papa sein Geld alle geworden, und die haben vielleicht jetzt so einen argen Hunger, dass sie es gar nicht erwarten können, bis sie heim kommen.“

 

Das Großmutterchen hat zwar die Ansicht nicht geteilt, ist aber doch fortgelaufen und hat einen saftigen Rollschinken gekauft, und dass die junge Frau nicht leer ausgeht, hat sie für die einen schönen Blumenstrauß mitgebracht. Wie der Schorsch (es war unser Faktotum, Hausbursche, Mädchen für alles, und gerade so einfältig und dappisch wie gut und treu) – also wie der Schorsch um sieben heim ist zu seiner Frau, hat ihm die Großmutter den Schinken und den Blumenstrauß an das Herz gelegt, und hat ihn instruiert, dass er Punkt zwölf an den Bahnhof gehen sollte, die Herrschaft empfangen, den Schinken und die Blumen überreichen, und dann mit der Laterne heim leuchten.

 

Unser Schorsch war also pünktlich am Bahnhof, hat die Herrschaft richtig erwischt, hat dem Papa – steif wie ein Grenadier – mit der Laterne in das Gesicht geleuchtet, dass ihm schier die Brille von der Nase gefallen ist, – und hat ihm den Blumenstrauß und der jungen Frau den Schinken überreicht. Der Papa hat die Geschichte gleich in die Reihe gebracht, hat den Schinken unter den einen Arm, seine Frau mitsamt ihrem Blumenstrauß unter den anderen Arm genommen – der Schorsch ist voraus, und so haben sie sich auf den Weg gemacht.

 

„Du Schorsch“, sagt der Papa unterwegs, „das war ja arg nett von dir, uns so zu überraschen, – und ich danke dir für deine Aufmerksamkeit. Aber jetzt gib mir einmal die Schlinke her.“

 

„Die Schlinke, – ich habe keine Schlinke, Herr Müller.“

 

„Was … du hast keine Schlinke, ei für was habe ich denn telegrafiert, – ich habe ja nur den Hausschlüssel bei mir; wie wollen wir denn jetzt in die Wohnung kommen?“

 

„Herr Müller, so viel wie ich Ihnen Ihre Madame Mutter kenne, ist die noch auf, – das lässt sie sich doch nicht nehmen.“

 

Und sie war noch auf, die gute, alte Frau; sie ist am Fenster gestanden, hat in die Nacht hinaus gehorcht, und wie sie dann den Schorsch mit der Laterne daher tappen und schlappen sieht, da hat sie auf dem Stockwerk die Lichter angemacht, für dass es ihrer Schwiegertochter recht hell und freundlich entgegen leuchten soll; ist dann die Treppe hinunter, hat ihre Leutchen begrüßt und hat sie an den schön verzierten, gedeckten Tisch geführt.

 

„Mutter“, sagt der Papa und streichelt ihr die Hände, „Mutter, wie nett hast du alles hergerichtet; aber sage, warum hast du mir denn die Schlinke nicht an den Bahnhof geschickt, dann hättest du ruhig schlafen gehen können, du bist doch auch nicht mehr achtzehnjährig.“

 

„Wie soll ich dazu kommen, Jakob, dir die Schlinke zu schicken?“

 

„Ei, ich habe es doch extra telegrafiert.“

 

Das Großmutterchen holt also die Depesche, liest vor: „Schorsch mit Schinken Bahnhof“, – da haben sich die drei Leute angeguckt – es ist ihnen ein Lichtlein aufgegangen, und sie haben fürchterlich angefangen zu lachen: „Daher der Schinken“, sagt der Papa „und ich habe mich schon beim Schorsch bedankt für seine Aufmerksamkeit. Gucke, Mutter, ich habe nur den Hausschlüssel mitgehabt und keine Schlinke und darum habe ich von Wiesbaden aus telegrafiert. Entweder weiß der Postbeamte nichts von einer pfälzer Schlinke, oder der Schinken steht ihm näher als die Schlinke.“

 

Am anderen Morgen hat mir das Großmutterchen alles erzählt, und wie dann der Papa beim Mittagessen mich geheißen hat, ich sollte diesen Schinken holen zum Aufschneiden, da habe ich gesagt: „Du, Papa, ist das jetzt eigentlich eine Schinken-Schlinke, – oder ein Schlinke-Schinken?“

 

„Natürlich“, hat der Papa gesagt, „ist das eine Schinken-Schlinke – nein, ich wollte sagen, ein Schlinke-Schinken.“

 

Weil mein sonst so unfehlbarer Papa sich versprochen hat, habe ich laut hinaus lachen müssen.

 

„Linchen“, straft er mich, „es gehört sich nicht, dass Kinder lachen, wenn ältere Leute sich versprechen, und es zeigt nicht von Bildung und Gemüt – verstanden? Ob man jetzt sagt Schlinke-Schinken oder Schinken-Schlinke, selbiges bleibt sich egal, – die Hauptsache ist, dass er uns schmeckt.“

 

Und er hat uns geschmeckt, der Schinken-Schlinke, Schlinke-Schinken, – in dieser armseligen Zeit schmeckt er mir sogar heute nach achtundfünfzig Jahren noch.

 

Lina Sommer

 

Originalschreibweise:

 

folgt