Das große Los

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

Als wir noch Kinder waren, freuten wir uns immer auf Mittwoch und Samstag, nicht allein, weil wir da nachmittags frei hatten, sondern hauptsächlich aus dem Grunde, weil an diesen beiden Tagen die Flickmarie ins Haus kam. Sie hatte, wie ich später erfuhr, einst bessere Zeiten gesehen, und hätte sich in ihrer Jugend gewiss nicht träumen lassen, dass sie sich einst mit ihrer Hände Arbeit mühselig ernähren müsse.

 

Früh verwaist, hing sie mit abgöttischer Liebe an ihrem einzigen, sehr talentierten, aber ebenso leichtsinnigen Bruder und brachte ihm Opfer über Opfer. Er aber nützte ihr gutes Herz aus, geriet in schlechte Gesellschaft, verkam an Leib und Seele, und als er einsah, dass er sein und seiner Schwester Vermögen bis auf den letzten Heller durchgebracht hatte, verschwand er und ließ nichts mehr von sich hören und sehen.

 

So ging nun die Flickmarie von Haus zu Haus, sich ihren Unterhalt zu verdienen, und gehörte bei uns sozusagen zum Inventar. Wir saßen bei ihr in der Nähstube, wo sie mit ihren weißen, schmalen, fleißigen Händen alles ausbesserte, was der „Zahn der Zeit“ einesteils und unsere Unachtsamkeit und Lebhaftigkeit anderenteils an Kleidern und Wäsche verdorben und zerrissen hatte. Solange sie im Haus war, konnte die Mutter unbesorgt ausgehen, unter der Aufsicht der Flickmarie „passierte“ nichts.

 

Kein Wunder, verstand doch kein Mensch besser als sie, auf Kinderherzen einzugehen und sie zu fesseln. Sie war immer heiter und gütig und hatte trotz ihrer armseligen, erbärmlichen Gestalt, trotz des Höckers, der ihren Körper verunstaltete, nichts Abstoßendes für uns, denn aus ihrem blassen Gesichtel strahlten zwei Augen, so mild, so groß, so beredt, und diese lieben Augen hatten eine große Gewalt über uns.

 

Sie erzählte uns die möglichsten und unmöglichsten Geschichten, alle aus eigener Erfindung, wir gruselten uns, wir lachten und weinten mit ihr um die Wette. Hatte sie eine Arbeit, bei der sie nicht nur die Hände, sondern auch den Kopf brauchte, also überlegen, austüfteln und einteilen musste, dann richtete sie ihre Geschichten so ein, dass den Personen allerlei Hindernisse in den Weg kamen, z. B. ein hoher Berg, über den sie hinüber, eine Brücke, sie sie suchen mussten.

 

Dann sagte sie: „So, ihr lieben Kinder, jetzt müssen wir erst abwarten, bis sie drüben sind“. Wir saßen dann eine Weile ganz still, bis eins ums andere fragte: „du, Flickmarie, das dauert aber lang, sind die denn immer noch nicht drüben?“ Hatte sie den Kopf frei, dann waren sie halt drüben, und wir bekamen lustig weiter erzählt. Hatte sie aber noch zu überlegen, dann hieß es: „nein, sie sind noch nicht drüben, aber bald. Ihr müsst nur ganz ruhig sein, sonst dauert es noch länger“.

 

Eines Tages sagte meine kleine Schwester: „Flickmarie, du bist wohl sehr arm, weil du immer das nämliche Kleid trägst?“ Da meinte sie: „Oh nein, es geht mir ganz gut; mein Geldbeutel drückt mich zwar nicht, es kann mir auch nichts gestohlen werden, aber ich gewinne noch das große Los und ich bekomme noch mein eigenes Gärtchen“. „Ja, weißt du denn das so ganz, ganz gewiss?“ fragten wir erstaunt.

 

„Ja, Kinder, so gewiss, wie zwei mal zwei vier ist“, antwortete sie, und es huschte so ein wehes und doch glückliches Lächeln über ihr Gesicht. Mein ältester Bruder, ein Tertianer, der für uns schon eine Autorität bedeutete, erstens weil er gern Fremdwörter gebrauchte, zweitens weil er heidenmäßig fluchen konnte, flüsterte mir ins Ohr: „du, höre mal, wenn das Kuriosum, die Flickmarie, wirklich das große Los gewinnt, was man immerhin nicht von der Hand weisen kann – parbleu – die pump ich an.

 

So ging die Zeit herum; wir Kinder wuchsen fröhlich ins Leben hinein, die Flickmarie wurde immer stiller, immer gebückter, und oft lag es wie eine Art Verklärung in ihren guten Augen. Die Gassenbuben lachten sie oft aus und machten sie zur Zielscheibe ihrer Rohheiten. Damals wünschte ich so sehnlich, dass sie doch einmal das große Los gewinnen möchte, denn ich dachte mir, dann kann sie im Wagen spazieren fahren und braucht sich nicht „krummer Buckel, krummer Buckel“ nachrufen zu lassen.

 

Mein Bruder kam fort zur Universität, in seinen Ferien fragte und neckte er oft: „nun, Mariechen, wie geht es – was macht das große Los – immer noch nicht gezogen? Und wie steht es mit dem eigenen Gärtchen?“ „Nein, junger Herr, aber es kommt bald, beides, verlassen Sie sich darauf, Sie erleben es.“

 

Wir zogen fort von der kleinen Stadt und als ich nach Jahr und Tag wieder in die alte Heimat kam, ging mein Weg zur Flickmarie. Die Hausleute erzählten mir, dass die gute Seele vor einigen Wochen friedlich eingeschlafen sei zum ewigen Schlummer.

 

Und als ich dann an dem kleinen, mit Blumen übersäten Hügel stand, als ich das schlichte Holzkreuz betrachtete, für das die Entschlafene bei Lebzeiten gespart, da ging mir das Verständnis auf für die frohe, stille Zuversicht, die ihr entbehrungsreiches, mühseliges Leben verschönt hatte, für die helle Verklärung, die über ihrem guten Gesicht lag, und für ihre schönen Worte: „ich gewinne noch das große Los und ich bekomme noch mein eigenes Gärtchen“.

 

Lina Sommer