Der Blick vom Alter ins Jugendland

letztes Gedicht vom 10. Juli 1932

aus: Das kleine Lina-Sommer-Buch

(hochdeutsch)

 

Es ist, als ob eine müde Hand

einen schweren Vorhang zur Seite schiebt,

dahinter leuchtendes, lachendes Land,

in dem kein Wölkchen den Himmel trübt.

Wir hören der Mutter vielliebes Wort,

sie öffnet die Arme, wir fliegen hinein.

Den gütigen Vater sehen wir dort,

es war solch köstlich Geborgensein.

Großmutter erzählt der Kinderschar

vom Zauber, vom Riesen und vom Zwerg,

von der Prinzessin mit goldenen Haar,

vom Schlaraffenland und vom Rübenberg.

 

Dann aber ins Freie hinaus, juchhe,

in Wald, in Feld, auf den Wiesenplan,

wie bei den jungen Häslein im grünen Klee

fängt da ein lustiges Treiben an.

 

Wir ziehen die Schuhe und Strümpfe aus

und laufen den Schmetterlingen nach,

wir pflücken uns Blumen zu Kranz und Strauß

und werfen die Kiesel weit in den Bach.

Versteckenspielen und Ringelreihen

und Haschen und Fangen in lustigem Trapp,

auf die Mädels und Buben in bunter Reihe

Gottvater sieht selber freundlich herab.

 

Der Weg bis ins Alter vom Jugendland,

wie war er mühselig und ohne Ruhe,

die müde Hand hält den Vorhang nicht mehr,

und sachte – ganz sacht – geht er wieder zu.

In der Erinnerung verklärendem Licht

und in des Abendrots mildem Schein,

schauen wir getrost und voll Zuversicht

ins wunschlose, weltferne Land hinein,

und sagen, wenn wir so nahe am Ziel,

war es auch nur ein Vorübergehen

und Arbeit und Mühsal und Kampf gar zu viel,

es war doch schön.

 

Lina Sommer