Am Kruzifix

aus: Grüß Gott

aus: Im Vorübergehn

(hochdeutsch)

 

Wo die Straße hinein in das Städtchen geht,

ein Kruzifix still am Wege steht,

gehauen in Stein schon vor manchem Jahr,

den Heiland am Kreuze stellt es dar.

 

Von Schmerz durchfurcht das edle Gesicht,

aus dem so viel Güte und Milde spricht;

auf der reinen Stirne die Dornenkron,

mit der man ihn schmückte zum Spott und Hohn,

der arme Körper gequält und schmal,

an Händen und Füßen das Nagelmal.

 

Viel Menschen gehen am Kreuz vorbei

mit Lärmen und Lachen, Gesang und Geschrei,

sie ziehen vorüber den ganzen Tag,

gefangen in ihrer Alltagsplag:

in ihrem hastig, geschäftigem Lauf

blickt keiner zum stillen Dulder dort auf.

 

Am Weg, der hinein in das Städtchen geht,

am Kruzifix ein klein´ Mägdelein steht;

aus dem hellen, dem reinen Kindergesicht

viel tiefes und warmes Mitleid spricht.

 

Die Blumen, die es im Felde gepflückt,

damit es zu Hause das Stübchen schmückt,

legt sorglich es nieder und ohne Reu

geht leise von dannen in stiller Scheu.

. . . . . . . . . . .

 

Auf dem Antlitz des Dulders mit einem Mal

liegt leuchtend ein lichter Sonnenstrahl.

 

Lina Sommer